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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

Alfred von Arneth und der Thran.

Wer noch nicht wissen sollte, waS
"geistreich" ist, dein können wir es jetzt an einem Beispiele deutlich machen. Der
Historiker Alfred von Arneth in Wien hat für seine Freunde eine Selbstbiographie
drucken lassen, aus der vor allem das eine hervorzugehen scheint, daß sein Lebens¬
weg ihn ziemlich mühelos stetig aufwärts zu allerlei Ämtern und Würden geführt
hat. Eine lange Besprechung dieses Buches in einer Wiener Zeitung hebt nnn
folgendermaßen an. "Die Küste von Neufundland wird von der Schiffahrt ge¬
mieden, weil dort das "Sand-Eiland" mit seinen stnrmgepeitschten Unten als
Grab unzähliger Fahrzeuge droht. Einmal landete dennoch ein Walfischfänger
ohne Havarie, weil er seine Thranfässer geopfert, ihr Öl in die stürmischen Fluten
gegossen und sich eine glatte Wasserfläche bereitet hatte. Über sich selbst zu schreiben
ist die schwierigste Aufgabe, weil man zwischen Selbstanklagen und Selbstlob hin-
"ut hergeworfen wird. Nur ein harmonisches Naturell zieht sich gleich jenem
Walfischfänger aus der Schwierigkeit, sodnß die aufgeregtesten Fluten des Lebens
und der Kritik ihm nichts anhaben." Der ununterrichtete Leser wird glauben, mit
diesem Bilde sei es auf eine Verspottung des Buches abgesehen. Aber weit ge¬
fehlt! Herr vou Arneth wird mit Komplimenten überschüttet und soll sich augen¬
scheinlich anch durch den Vergleich seiner Darstellungsweise mit einem Thranfasse
geschmeichelt fühlen. Weiterhin finde" nur folgende nicht minder köstliche Parallele.
"In einer Vision sieht der Prophet Ezechiel ein weites Beinhaus sich aufthun,
doch der Geist rauscht darüber hiu und bekleidet die dürren Knochen mit Fleisch
und Adern und Haut, bis sie zu leben beginnen. Ähnlich thut sich das Archiv
ans, ein Abgrund vou vergilbten Papier; doch der rückwärts gewendete Prophet,
der Geschichtschreiber, erweckt aus dieser toten Vergangenheit lebensvolle Gestalten."
Welcher Nationalität der ungenannte Verfasser dieser ebenso "tiefen als brillanten"
Sätze angehört, kann wohl nicht zweifelhaft sein. Aber leider werden die in solchem
Stil geschriebenen Blätter much von andern gelesen und verderben langsam, aber
gründlich den Geschmack.




Litteratur
Der internationale Socialismus von 188S bis 18!10. Von L. Winterer, Pfarrer
und Kanonikus in Mullinusen im Elsas;, Mitglied des deutschen Reichstages. Genehmigte
Übersetzung aus dem Französischen vou Johannes Ber g. Köln am Rhein, I. P. Bachem, 189"

Wer sich über die Geschichte der sozialistischen Bewegung in dem angegebene",
Zeitabschnitt unterrichten will, der findet hier das Thatsächliche- Kongreßverhand¬
lungen, Kundgebungen, amtliche Berichte der deutschen Regierungen, Geheimbnnd-
prozesse n. s. w. nach Staaten geordnet ziemlich vollständig beisammen. Ein zweiter
kürzerer Teil ist dem Anarchismus gewidmet. Die Berichterstattung des Verfassers
läßt eine liefere Einsicht in das Wesen der sozialen Bewegung nicht erkennen; sie
bekundet jene ganz äußerliche, und mechanische Auffassung, die man wohl bei eüiem
Polizeibeamten, aber nicht bei einem Pfarrer natürlich findet. Im dritten Teile


Litteratur

Alfred von Arneth und der Thran.

Wer noch nicht wissen sollte, waS
„geistreich" ist, dein können wir es jetzt an einem Beispiele deutlich machen. Der
Historiker Alfred von Arneth in Wien hat für seine Freunde eine Selbstbiographie
drucken lassen, aus der vor allem das eine hervorzugehen scheint, daß sein Lebens¬
weg ihn ziemlich mühelos stetig aufwärts zu allerlei Ämtern und Würden geführt
hat. Eine lange Besprechung dieses Buches in einer Wiener Zeitung hebt nnn
folgendermaßen an. „Die Küste von Neufundland wird von der Schiffahrt ge¬
mieden, weil dort das »Sand-Eiland« mit seinen stnrmgepeitschten Unten als
Grab unzähliger Fahrzeuge droht. Einmal landete dennoch ein Walfischfänger
ohne Havarie, weil er seine Thranfässer geopfert, ihr Öl in die stürmischen Fluten
gegossen und sich eine glatte Wasserfläche bereitet hatte. Über sich selbst zu schreiben
ist die schwierigste Aufgabe, weil man zwischen Selbstanklagen und Selbstlob hin-
»ut hergeworfen wird. Nur ein harmonisches Naturell zieht sich gleich jenem
Walfischfänger aus der Schwierigkeit, sodnß die aufgeregtesten Fluten des Lebens
und der Kritik ihm nichts anhaben." Der ununterrichtete Leser wird glauben, mit
diesem Bilde sei es auf eine Verspottung des Buches abgesehen. Aber weit ge¬
fehlt! Herr vou Arneth wird mit Komplimenten überschüttet und soll sich augen¬
scheinlich anch durch den Vergleich seiner Darstellungsweise mit einem Thranfasse
geschmeichelt fühlen. Weiterhin finde» nur folgende nicht minder köstliche Parallele.
„In einer Vision sieht der Prophet Ezechiel ein weites Beinhaus sich aufthun,
doch der Geist rauscht darüber hiu und bekleidet die dürren Knochen mit Fleisch
und Adern und Haut, bis sie zu leben beginnen. Ähnlich thut sich das Archiv
ans, ein Abgrund vou vergilbten Papier; doch der rückwärts gewendete Prophet,
der Geschichtschreiber, erweckt aus dieser toten Vergangenheit lebensvolle Gestalten."
Welcher Nationalität der ungenannte Verfasser dieser ebenso „tiefen als brillanten"
Sätze angehört, kann wohl nicht zweifelhaft sein. Aber leider werden die in solchem
Stil geschriebenen Blätter much von andern gelesen und verderben langsam, aber
gründlich den Geschmack.




Litteratur
Der internationale Socialismus von 188S bis 18!10. Von L. Winterer, Pfarrer
und Kanonikus in Mullinusen im Elsas;, Mitglied des deutschen Reichstages. Genehmigte
Übersetzung aus dem Französischen vou Johannes Ber g. Köln am Rhein, I. P. Bachem, 189»

Wer sich über die Geschichte der sozialistischen Bewegung in dem angegebene»,
Zeitabschnitt unterrichten will, der findet hier das Thatsächliche- Kongreßverhand¬
lungen, Kundgebungen, amtliche Berichte der deutschen Regierungen, Geheimbnnd-
prozesse n. s. w. nach Staaten geordnet ziemlich vollständig beisammen. Ein zweiter
kürzerer Teil ist dem Anarchismus gewidmet. Die Berichterstattung des Verfassers
läßt eine liefere Einsicht in das Wesen der sozialen Bewegung nicht erkennen; sie
bekundet jene ganz äußerliche, und mechanische Auffassung, die man wohl bei eüiem
Polizeibeamten, aber nicht bei einem Pfarrer natürlich findet. Im dritten Teile


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[0450] Litteratur Alfred von Arneth und der Thran. Wer noch nicht wissen sollte, waS „geistreich" ist, dein können wir es jetzt an einem Beispiele deutlich machen. Der Historiker Alfred von Arneth in Wien hat für seine Freunde eine Selbstbiographie drucken lassen, aus der vor allem das eine hervorzugehen scheint, daß sein Lebens¬ weg ihn ziemlich mühelos stetig aufwärts zu allerlei Ämtern und Würden geführt hat. Eine lange Besprechung dieses Buches in einer Wiener Zeitung hebt nnn folgendermaßen an. „Die Küste von Neufundland wird von der Schiffahrt ge¬ mieden, weil dort das »Sand-Eiland« mit seinen stnrmgepeitschten Unten als Grab unzähliger Fahrzeuge droht. Einmal landete dennoch ein Walfischfänger ohne Havarie, weil er seine Thranfässer geopfert, ihr Öl in die stürmischen Fluten gegossen und sich eine glatte Wasserfläche bereitet hatte. Über sich selbst zu schreiben ist die schwierigste Aufgabe, weil man zwischen Selbstanklagen und Selbstlob hin- »ut hergeworfen wird. Nur ein harmonisches Naturell zieht sich gleich jenem Walfischfänger aus der Schwierigkeit, sodnß die aufgeregtesten Fluten des Lebens und der Kritik ihm nichts anhaben." Der ununterrichtete Leser wird glauben, mit diesem Bilde sei es auf eine Verspottung des Buches abgesehen. Aber weit ge¬ fehlt! Herr vou Arneth wird mit Komplimenten überschüttet und soll sich augen¬ scheinlich anch durch den Vergleich seiner Darstellungsweise mit einem Thranfasse geschmeichelt fühlen. Weiterhin finde» nur folgende nicht minder köstliche Parallele. „In einer Vision sieht der Prophet Ezechiel ein weites Beinhaus sich aufthun, doch der Geist rauscht darüber hiu und bekleidet die dürren Knochen mit Fleisch und Adern und Haut, bis sie zu leben beginnen. Ähnlich thut sich das Archiv ans, ein Abgrund vou vergilbten Papier; doch der rückwärts gewendete Prophet, der Geschichtschreiber, erweckt aus dieser toten Vergangenheit lebensvolle Gestalten." Welcher Nationalität der ungenannte Verfasser dieser ebenso „tiefen als brillanten" Sätze angehört, kann wohl nicht zweifelhaft sein. Aber leider werden die in solchem Stil geschriebenen Blätter much von andern gelesen und verderben langsam, aber gründlich den Geschmack. Litteratur Der internationale Socialismus von 188S bis 18!10. Von L. Winterer, Pfarrer und Kanonikus in Mullinusen im Elsas;, Mitglied des deutschen Reichstages. Genehmigte Übersetzung aus dem Französischen vou Johannes Ber g. Köln am Rhein, I. P. Bachem, 189» Wer sich über die Geschichte der sozialistischen Bewegung in dem angegebene», Zeitabschnitt unterrichten will, der findet hier das Thatsächliche- Kongreßverhand¬ lungen, Kundgebungen, amtliche Berichte der deutschen Regierungen, Geheimbnnd- prozesse n. s. w. nach Staaten geordnet ziemlich vollständig beisammen. Ein zweiter kürzerer Teil ist dem Anarchismus gewidmet. Die Berichterstattung des Verfassers läßt eine liefere Einsicht in das Wesen der sozialen Bewegung nicht erkennen; sie bekundet jene ganz äußerliche, und mechanische Auffassung, die man wohl bei eüiem Polizeibeamten, aber nicht bei einem Pfarrer natürlich findet. Im dritten Teile

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/450>, abgerufen am 04.07.2024.