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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Werte mehr kaufen -- das ist weit mehr als die aufgebauschte Judenfrage
der Grund, weshalb sich die Rothschilds im letzten Augenblick zurückgezogen
haben. Auch in Moskau ist nach dem ersten Frendeurausch eine Ernüchterung
eingetreten, da mau sieht, wie sehr es die französischen, Aussteller auf das
Geldmacheu in brutalster Form abgesehen haben. Man sucht zwar, um die
Franzosen zu entlaste", "ach einem Sündenbock und hat ihn glücklich in den
russischen Jude" gesunde", die als Vermittler und Mitnuternehmer den Profit
mit Frankreich teilen wollen; auch wird jetzt weidlich geschimpft. Aber was
hat das alles zu sagen? Es ist eine kleine Abkühlung, die nicht vorhalten
wird. Es bleibt beim Alten: Vivo til, ?riuuw, vivo In Nussis!




Zllaßgebliches und Unmaßgebliches
Die Schönheiten des Patriotismus.

Zum Troste für unznfriedne
Deutsche geben nur mit Kürzungen einen Artikel wieder, den Octave Mirbeau unter
dieser Überschrift i" Ur. 138 deS Figaro veröffentlicht.

Herr Remy de Gourmvnt ist ein Schriftsteller von schönem Talent und einer
der tiefsten Geister, die ich kenne. Dn er weder reich ist, noch es versteht, die
Schriftstellerei auf gewinnbringende Weise zu betreiben, so hat er eine Stelle an
der Nationalbibliothek angenommen. Er hatte sie nicht irgend welcher Protektion
zu verdanken, sondern war, was im Getriebe unsers Verwaltuugsmechanismus ein
äußerst seltner Ausnahmefall ist, wirklich der rechte Mann dafür. Seine Muße-
stunden benutzte er dazu, einige sehr schöne Bücher zu schreibe" und am Nsrour^
Ah FiÄneo mitzuarbeiten. Man hätte denken sollen, daß dieser Mann, der, sein
Leben zwischen Pflichterfüllung, gelehrten Studien und unpopulären Gedauleu-
schöpfnngen leitend, ein ganz klösterliches Dasein führte, niemanden im Wege war,
niemandem seinen gestohlenen litterarischen Ruhm streitig machte, vor alleu Stürmen
deS öffentlichen Lebens hätte geschützt sein müssen. Aber es kam anders.

Vor kurzem ist ein Bibliothekar in der Provinz, dessen knapper Gehalt zur
Ernährung seiner sechs Kinder nicht hinreichte, vor die Wahl gestellt worden, ob
er auf seine Bibliothekarstelle oder auf seiue journalistische Nebenbeschäftigung ver¬
zichten wolle. Herrn von Gourmont erging es noch schlimmer und dümmer. Die
Presse ist bei uns frei, unter der Bedingung, daß sie ihrem Amte als Bolts-
verdummerin (son rülo Ä'-z-drutisssme-ut Motiv) treu bleibt. Man verzeiht jeden
Sprachschnitzer, wenn der Schriftsteller es nnr so macht, wie die Tingeltangel-
sängerinnen, die immer mit einem Patriotischen Couplet schließen. Jede Obscönilät
in Wort, Bild und Handlung ist gestattet, wenn nur dabei die Trikolore geschwenkt
wird. Man darf stehlen, morden, verleumden, Verrat üben, ein wirklicher Zucht¬
häusler sei", das alles thut den: guten Rufe leinen Eintrag, wenn mau mir Frauen
beschimpft, die aus Denischland kommen, alle Ereignisse des wirklichen Genies be-


Werte mehr kaufen — das ist weit mehr als die aufgebauschte Judenfrage
der Grund, weshalb sich die Rothschilds im letzten Augenblick zurückgezogen
haben. Auch in Moskau ist nach dem ersten Frendeurausch eine Ernüchterung
eingetreten, da mau sieht, wie sehr es die französischen, Aussteller auf das
Geldmacheu in brutalster Form abgesehen haben. Man sucht zwar, um die
Franzosen zu entlaste», »ach einem Sündenbock und hat ihn glücklich in den
russischen Jude» gesunde», die als Vermittler und Mitnuternehmer den Profit
mit Frankreich teilen wollen; auch wird jetzt weidlich geschimpft. Aber was
hat das alles zu sagen? Es ist eine kleine Abkühlung, die nicht vorhalten
wird. Es bleibt beim Alten: Vivo til, ?riuuw, vivo In Nussis!




Zllaßgebliches und Unmaßgebliches
Die Schönheiten des Patriotismus.

Zum Troste für unznfriedne
Deutsche geben nur mit Kürzungen einen Artikel wieder, den Octave Mirbeau unter
dieser Überschrift i» Ur. 138 deS Figaro veröffentlicht.

Herr Remy de Gourmvnt ist ein Schriftsteller von schönem Talent und einer
der tiefsten Geister, die ich kenne. Dn er weder reich ist, noch es versteht, die
Schriftstellerei auf gewinnbringende Weise zu betreiben, so hat er eine Stelle an
der Nationalbibliothek angenommen. Er hatte sie nicht irgend welcher Protektion
zu verdanken, sondern war, was im Getriebe unsers Verwaltuugsmechanismus ein
äußerst seltner Ausnahmefall ist, wirklich der rechte Mann dafür. Seine Muße-
stunden benutzte er dazu, einige sehr schöne Bücher zu schreibe» und am Nsrour^
Ah FiÄneo mitzuarbeiten. Man hätte denken sollen, daß dieser Mann, der, sein
Leben zwischen Pflichterfüllung, gelehrten Studien und unpopulären Gedauleu-
schöpfnngen leitend, ein ganz klösterliches Dasein führte, niemanden im Wege war,
niemandem seinen gestohlenen litterarischen Ruhm streitig machte, vor alleu Stürmen
deS öffentlichen Lebens hätte geschützt sein müssen. Aber es kam anders.

Vor kurzem ist ein Bibliothekar in der Provinz, dessen knapper Gehalt zur
Ernährung seiner sechs Kinder nicht hinreichte, vor die Wahl gestellt worden, ob
er auf seine Bibliothekarstelle oder auf seiue journalistische Nebenbeschäftigung ver¬
zichten wolle. Herrn von Gourmont erging es noch schlimmer und dümmer. Die
Presse ist bei uns frei, unter der Bedingung, daß sie ihrem Amte als Bolts-
verdummerin (son rülo Ä'-z-drutisssme-ut Motiv) treu bleibt. Man verzeiht jeden
Sprachschnitzer, wenn der Schriftsteller es nnr so macht, wie die Tingeltangel-
sängerinnen, die immer mit einem Patriotischen Couplet schließen. Jede Obscönilät
in Wort, Bild und Handlung ist gestattet, wenn nur dabei die Trikolore geschwenkt
wird. Man darf stehlen, morden, verleumden, Verrat üben, ein wirklicher Zucht¬
häusler sei«, das alles thut den: guten Rufe leinen Eintrag, wenn mau mir Frauen
beschimpft, die aus Denischland kommen, alle Ereignisse des wirklichen Genies be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/444>, abgerufen am 04.07.2024.