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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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windthorst

Entwicklung der letzten Jahre die Entscheidung in die Hände gespielt hatte.
In der Hauptsache läßt sich die augenblickliche Lage dahin feststellen, daß die
Entscheidung bei uns von der Haltung unsers Großgrundbesitzes, also der
Konservativen, abhängen wird. Es herrscht die Befürchtung, daß die ohnehin
schwierige Lage unsrer Landwirte durch einen Zufluß billigen Getreides aus
Ungarn noch wesentlich erschwert werden konnte. Das Interesse der Partei
erheischt eine möglichst geringe Erniedrigung der Getreidezölle.

Wohin die Entwicklung führen wird, können wir zwar im Augenblicke
nicht absehen; wirtschaftliche Opfer zu bringen, um in Zukunft Vorteile zu
erringen, die sich noch nicht aufzählen oder abwägen lassen, das mag schwer
genug fallen. Doch scheint uus, daß die vou unsrer Industrie gehofften Vor¬
teile mittelbar auch der Landwirtschaft zu gute kommen müssen, schon weil sie
fast überall selbst mit der Industrie verbunden wird. Wer Zucker produzirt
oder Branntwein brennt, steht bereits mit beiden Füßen auf dem Jutercsfen-
boden der Industriellen. Das ist aber für uus nur ein Gesichtspunkt zweiter
Ordnung. Das Wesentliche liegt in der Unmöglichkeit, ans die Dürer die
Lage zu ertragen, die uns Amerika und Rußland wirtschaftlich geschaffen
haben, sowie in der weitern Notwendigkeit, unser politisches Bündnis mit
Österreich durch die ehernen Bande gleicher materieller Interessen dauernd zu
befestigen. Das wirtschaftlich-politische Bündnis mit Österreich ist aber nur
die Vorstufe zu weitern Verträgen verwandter Natur, und das lockende Ziel
ist: ein wirtschaftlich geeinigtes Mitteleuropa, das, auf seiue Kolonien gestützt,
unabhängig bleibt von der Feindseligkeit im Osten und von dem wirtschaftlichen
Egoismus jenseits des Meeres.




Windthorst

n Ludwig Windthorst ist ein Mann aus der Welt geschieden,
der auf die Geschicke Deutschlands einen tiefgreifenden Einfluß
geübt hat. Bewunderung verdient er, weil er diesen Einfluß
uur durch seine geistigen Eigenschaften errungen und weil er
sich diese Eigenschaften bis in ein hohes Alter bewahrt hat.
Bei seinem Tode sind viele Blätter seines Ruhmes voll gewesen, nicht allein
Blätter derjenigen Partei, deren Interessen er vertrat, fondern auch Blätter
ganz andrer Richtung. Aber die Geschichte ist eine strenge Wissenschaft. Sie


windthorst

Entwicklung der letzten Jahre die Entscheidung in die Hände gespielt hatte.
In der Hauptsache läßt sich die augenblickliche Lage dahin feststellen, daß die
Entscheidung bei uns von der Haltung unsers Großgrundbesitzes, also der
Konservativen, abhängen wird. Es herrscht die Befürchtung, daß die ohnehin
schwierige Lage unsrer Landwirte durch einen Zufluß billigen Getreides aus
Ungarn noch wesentlich erschwert werden konnte. Das Interesse der Partei
erheischt eine möglichst geringe Erniedrigung der Getreidezölle.

Wohin die Entwicklung führen wird, können wir zwar im Augenblicke
nicht absehen; wirtschaftliche Opfer zu bringen, um in Zukunft Vorteile zu
erringen, die sich noch nicht aufzählen oder abwägen lassen, das mag schwer
genug fallen. Doch scheint uus, daß die vou unsrer Industrie gehofften Vor¬
teile mittelbar auch der Landwirtschaft zu gute kommen müssen, schon weil sie
fast überall selbst mit der Industrie verbunden wird. Wer Zucker produzirt
oder Branntwein brennt, steht bereits mit beiden Füßen auf dem Jutercsfen-
boden der Industriellen. Das ist aber für uus nur ein Gesichtspunkt zweiter
Ordnung. Das Wesentliche liegt in der Unmöglichkeit, ans die Dürer die
Lage zu ertragen, die uns Amerika und Rußland wirtschaftlich geschaffen
haben, sowie in der weitern Notwendigkeit, unser politisches Bündnis mit
Österreich durch die ehernen Bande gleicher materieller Interessen dauernd zu
befestigen. Das wirtschaftlich-politische Bündnis mit Österreich ist aber nur
die Vorstufe zu weitern Verträgen verwandter Natur, und das lockende Ziel
ist: ein wirtschaftlich geeinigtes Mitteleuropa, das, auf seiue Kolonien gestützt,
unabhängig bleibt von der Feindseligkeit im Osten und von dem wirtschaftlichen
Egoismus jenseits des Meeres.




Windthorst

n Ludwig Windthorst ist ein Mann aus der Welt geschieden,
der auf die Geschicke Deutschlands einen tiefgreifenden Einfluß
geübt hat. Bewunderung verdient er, weil er diesen Einfluß
uur durch seine geistigen Eigenschaften errungen und weil er
sich diese Eigenschaften bis in ein hohes Alter bewahrt hat.
Bei seinem Tode sind viele Blätter seines Ruhmes voll gewesen, nicht allein
Blätter derjenigen Partei, deren Interessen er vertrat, fondern auch Blätter
ganz andrer Richtung. Aber die Geschichte ist eine strenge Wissenschaft. Sie


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[0012] windthorst Entwicklung der letzten Jahre die Entscheidung in die Hände gespielt hatte. In der Hauptsache läßt sich die augenblickliche Lage dahin feststellen, daß die Entscheidung bei uns von der Haltung unsers Großgrundbesitzes, also der Konservativen, abhängen wird. Es herrscht die Befürchtung, daß die ohnehin schwierige Lage unsrer Landwirte durch einen Zufluß billigen Getreides aus Ungarn noch wesentlich erschwert werden konnte. Das Interesse der Partei erheischt eine möglichst geringe Erniedrigung der Getreidezölle. Wohin die Entwicklung führen wird, können wir zwar im Augenblicke nicht absehen; wirtschaftliche Opfer zu bringen, um in Zukunft Vorteile zu erringen, die sich noch nicht aufzählen oder abwägen lassen, das mag schwer genug fallen. Doch scheint uus, daß die vou unsrer Industrie gehofften Vor¬ teile mittelbar auch der Landwirtschaft zu gute kommen müssen, schon weil sie fast überall selbst mit der Industrie verbunden wird. Wer Zucker produzirt oder Branntwein brennt, steht bereits mit beiden Füßen auf dem Jutercsfen- boden der Industriellen. Das ist aber für uus nur ein Gesichtspunkt zweiter Ordnung. Das Wesentliche liegt in der Unmöglichkeit, ans die Dürer die Lage zu ertragen, die uns Amerika und Rußland wirtschaftlich geschaffen haben, sowie in der weitern Notwendigkeit, unser politisches Bündnis mit Österreich durch die ehernen Bande gleicher materieller Interessen dauernd zu befestigen. Das wirtschaftlich-politische Bündnis mit Österreich ist aber nur die Vorstufe zu weitern Verträgen verwandter Natur, und das lockende Ziel ist: ein wirtschaftlich geeinigtes Mitteleuropa, das, auf seiue Kolonien gestützt, unabhängig bleibt von der Feindseligkeit im Osten und von dem wirtschaftlichen Egoismus jenseits des Meeres. Windthorst n Ludwig Windthorst ist ein Mann aus der Welt geschieden, der auf die Geschicke Deutschlands einen tiefgreifenden Einfluß geübt hat. Bewunderung verdient er, weil er diesen Einfluß uur durch seine geistigen Eigenschaften errungen und weil er sich diese Eigenschaften bis in ein hohes Alter bewahrt hat. Bei seinem Tode sind viele Blätter seines Ruhmes voll gewesen, nicht allein Blätter derjenigen Partei, deren Interessen er vertrat, fondern auch Blätter ganz andrer Richtung. Aber die Geschichte ist eine strenge Wissenschaft. Sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/12>, abgerufen am 04.07.2024.