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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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seine engste Heimat hinausgekommen wäre. Alles was ihm neu und inter¬
essant ist, soll den gleichen Reiz ans andre ausüben. Dagegen wird, was er
über Vergangenheit und Gegenwart Kretas beibringt, einem Zeitungsleser nicht
viel Neues sagen. "In Kandin giebt es auch ein Museum mit ausgegrabenen
Kunstschätzen; ich hatte leider nicht die Zeit, es nnfzusnchen; aber was
in Häusern und Höfen leicht zugänglich war, zeigte mir mein Führer." Diese
Stelle ist charakteristisch, und entsprechend sind die Wahrnehmungen aus Athen,
Konstantinopel n. s. w. Als ihm die Laterne des Diogenes gezeigt wird, fragt
der Verfasser: "Wie soll ich das verstehen? Soll des Diogenes Laterne eine
solche Gestalt gehabt haben?" Allerdings scheint er nur auf mindergebildete
Leser zu rechnen, die er belehren muß, daß Zeus römisch Jupiter heißt. Wie
es dem Neiscschriftsteller ziemt, zitirt Alfred vou Seefeld auch Dichter, namentlich
Homer und Scheffel. Am ersten Ostertage läßt er sich "den klassischen Spazier¬
gang nicht nehmen," findet jedoch "in der Ebne von Cnnea alles so ganz,
ganz anders als bei uns. Hier paßt kein Zug auf unsern Faust!" Das ist
allerdings überraschend. Am nächsten steht dem Herzen des Verfassers offenbar
ein sonst unbekannter Dichter, der Elpis Melena in einer Ode angesungen hat,
die folgendermaßen anhebt:


An Gnribnldis Hcldenplnn
Hast Ehr und Namen dn geknüpft,
Und denk ich, was dn ihm gethan,
Das Herz nur froh im Busen hüpft.
Gar mancher zwar dich nicht versteht,
Und wohl gar manche lästert dich
Doch wisse, daß das oft so geht,
Und tröste, o Melena, dich!

Der Dichter heißt nicht Gottlob Biedermayer, sondern H. W. Bödeker.




Von allerlei Dichterinnen

meer dem bescheidnen Titel Phantasien und Märchen hat
Isolde Kurz (Stuttgart, Goschen, 1890) ein Bändchen kleiner
Erzählungen veröffentlicht, das uns eine eingehendere Besprechung
zu verdienen scheint. Gute Märchen zu schreiben, ist Wohl die
schwierigste Kunst; wer sie besitzt, darf zu den Sonntagskindern
der Poesie gezählt werden. Als Rückschlag gegen den Naturalismus und
öden Wirklichkeitskultus find zwar in der letzten Zeit viele Märchenbiicher er-


seine engste Heimat hinausgekommen wäre. Alles was ihm neu und inter¬
essant ist, soll den gleichen Reiz ans andre ausüben. Dagegen wird, was er
über Vergangenheit und Gegenwart Kretas beibringt, einem Zeitungsleser nicht
viel Neues sagen. „In Kandin giebt es auch ein Museum mit ausgegrabenen
Kunstschätzen; ich hatte leider nicht die Zeit, es nnfzusnchen; aber was
in Häusern und Höfen leicht zugänglich war, zeigte mir mein Führer." Diese
Stelle ist charakteristisch, und entsprechend sind die Wahrnehmungen aus Athen,
Konstantinopel n. s. w. Als ihm die Laterne des Diogenes gezeigt wird, fragt
der Verfasser: „Wie soll ich das verstehen? Soll des Diogenes Laterne eine
solche Gestalt gehabt haben?" Allerdings scheint er nur auf mindergebildete
Leser zu rechnen, die er belehren muß, daß Zeus römisch Jupiter heißt. Wie
es dem Neiscschriftsteller ziemt, zitirt Alfred vou Seefeld auch Dichter, namentlich
Homer und Scheffel. Am ersten Ostertage läßt er sich „den klassischen Spazier¬
gang nicht nehmen," findet jedoch „in der Ebne von Cnnea alles so ganz,
ganz anders als bei uns. Hier paßt kein Zug auf unsern Faust!" Das ist
allerdings überraschend. Am nächsten steht dem Herzen des Verfassers offenbar
ein sonst unbekannter Dichter, der Elpis Melena in einer Ode angesungen hat,
die folgendermaßen anhebt:


An Gnribnldis Hcldenplnn
Hast Ehr und Namen dn geknüpft,
Und denk ich, was dn ihm gethan,
Das Herz nur froh im Busen hüpft.
Gar mancher zwar dich nicht versteht,
Und wohl gar manche lästert dich
Doch wisse, daß das oft so geht,
Und tröste, o Melena, dich!

Der Dichter heißt nicht Gottlob Biedermayer, sondern H. W. Bödeker.




Von allerlei Dichterinnen

meer dem bescheidnen Titel Phantasien und Märchen hat
Isolde Kurz (Stuttgart, Goschen, 1890) ein Bändchen kleiner
Erzählungen veröffentlicht, das uns eine eingehendere Besprechung
zu verdienen scheint. Gute Märchen zu schreiben, ist Wohl die
schwierigste Kunst; wer sie besitzt, darf zu den Sonntagskindern
der Poesie gezählt werden. Als Rückschlag gegen den Naturalismus und
öden Wirklichkeitskultus find zwar in der letzten Zeit viele Märchenbiicher er-


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[0464] seine engste Heimat hinausgekommen wäre. Alles was ihm neu und inter¬ essant ist, soll den gleichen Reiz ans andre ausüben. Dagegen wird, was er über Vergangenheit und Gegenwart Kretas beibringt, einem Zeitungsleser nicht viel Neues sagen. „In Kandin giebt es auch ein Museum mit ausgegrabenen Kunstschätzen; ich hatte leider nicht die Zeit, es nnfzusnchen; aber was in Häusern und Höfen leicht zugänglich war, zeigte mir mein Führer." Diese Stelle ist charakteristisch, und entsprechend sind die Wahrnehmungen aus Athen, Konstantinopel n. s. w. Als ihm die Laterne des Diogenes gezeigt wird, fragt der Verfasser: „Wie soll ich das verstehen? Soll des Diogenes Laterne eine solche Gestalt gehabt haben?" Allerdings scheint er nur auf mindergebildete Leser zu rechnen, die er belehren muß, daß Zeus römisch Jupiter heißt. Wie es dem Neiscschriftsteller ziemt, zitirt Alfred vou Seefeld auch Dichter, namentlich Homer und Scheffel. Am ersten Ostertage läßt er sich „den klassischen Spazier¬ gang nicht nehmen," findet jedoch „in der Ebne von Cnnea alles so ganz, ganz anders als bei uns. Hier paßt kein Zug auf unsern Faust!" Das ist allerdings überraschend. Am nächsten steht dem Herzen des Verfassers offenbar ein sonst unbekannter Dichter, der Elpis Melena in einer Ode angesungen hat, die folgendermaßen anhebt: An Gnribnldis Hcldenplnn Hast Ehr und Namen dn geknüpft, Und denk ich, was dn ihm gethan, Das Herz nur froh im Busen hüpft. Gar mancher zwar dich nicht versteht, Und wohl gar manche lästert dich Doch wisse, daß das oft so geht, Und tröste, o Melena, dich! Der Dichter heißt nicht Gottlob Biedermayer, sondern H. W. Bödeker. Von allerlei Dichterinnen meer dem bescheidnen Titel Phantasien und Märchen hat Isolde Kurz (Stuttgart, Goschen, 1890) ein Bändchen kleiner Erzählungen veröffentlicht, das uns eine eingehendere Besprechung zu verdienen scheint. Gute Märchen zu schreiben, ist Wohl die schwierigste Kunst; wer sie besitzt, darf zu den Sonntagskindern der Poesie gezählt werden. Als Rückschlag gegen den Naturalismus und öden Wirklichkeitskultus find zwar in der letzten Zeit viele Märchenbiicher er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/464>, abgerufen am 22.07.2024.