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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Judith Trachtenberg

Unehrlichkeit, der Fälschung und der treulosen Gesinnung anklagt, wie es der
Prinz Napoleon gethan hat, so thut man dem Geschichtschreiber sicher Unrecht,
Taine steht mit allen heilten Bestrebungen und Arbeiten über allen Parteien
und persönlichen Interessen; er hat es verstanden, sich nach und nach bei
allen politischen Parteien in Frankreich mißliebig zu machen, und das spricht
sicher für seinen ehrlichen Charakter und seine ehrliche Überzeugung.




Judith Trachtenberg

me neue Erzählung von Karl Emil Franzos, die ans dem ihm
vertrauten Boden von "Halbasien", von Galizien spielt, ist von
vornherein der Teilnahme großer Leserkreise sicher. Auch da,
wo mau sich von der Darstellungsweise des Schriftstellers keine
eigentlich ästhetische Befriedigung verspricht, ist man doch über¬
zeugt, daß ein Stück eigentümlicher, scharfer Beobachtung, charakteristischer
Schilderung von Land und Leuten seinen Erfindungen zu Grunde liegt, und
rechnet ans ein treues Bild verborgner Erdenwinkel und schwer zugänglicher
Häuser. Wer aber eine Reihe der besten kleinern Erzählungen von Franzos und
vor allen Dingen den Roman "Ein Kampf ums Recht" im Gedächtnis hat,
wird und darf mehr erwarten, und in der That gehört auch der Roman
"Judith Trachtenberg" "ach der Seite des lebendigen, energischen Vortrages und
der sinnlichen Anschaulichkeit zu seinen besten Leistungen. Leider läßt sich den
Vorgängen und Menschen der Erzählung selbst -- gleichviel ob sie freie Er¬
findung oder Wiedergabe der Wirklichkeit sind -- nicht nachrühmen, daß sie
ein tieferes Interesse erregten als das, was wir an widerspruchsvoll seltsamen
Erlebnissen und unerquickliche" Schicksalen doch auch nehmen müssen. Nach der
gegenwärtig proklamirten Anschauung ist es freilich unzulässig, dem dargestellten
Leben gegenüber, wenn es nur Leben ist, von Shmpnthie und Antipathie zu
sprechen. Doch ein Schriftsteller, wie der Verfasser der Bilder "Aus Halb¬
asien" und des erschütternden Romans "Ein Kampf ums Recht", weiß sehr
gut, daß am letzten Ende die Empfindung unbesieglich ist und, wenn anch
nicht über den Kunstwert, so doch über die lebendige, dauernde Wirkuugsfühigkeit
jeder Dichtung, ihre Kraft, Sympathie zu wecken, entscheidet. In der von ihm
dargestellten tragischen Episode aus dem pvdolischen Leben aber ist fast in allen
Gestalten etwas vorhanden, was die reine Teilnahme nicht aufkommen läßt, was


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Unehrlichkeit, der Fälschung und der treulosen Gesinnung anklagt, wie es der
Prinz Napoleon gethan hat, so thut man dem Geschichtschreiber sicher Unrecht,
Taine steht mit allen heilten Bestrebungen und Arbeiten über allen Parteien
und persönlichen Interessen; er hat es verstanden, sich nach und nach bei
allen politischen Parteien in Frankreich mißliebig zu machen, und das spricht
sicher für seinen ehrlichen Charakter und seine ehrliche Überzeugung.




Judith Trachtenberg

me neue Erzählung von Karl Emil Franzos, die ans dem ihm
vertrauten Boden von „Halbasien", von Galizien spielt, ist von
vornherein der Teilnahme großer Leserkreise sicher. Auch da,
wo mau sich von der Darstellungsweise des Schriftstellers keine
eigentlich ästhetische Befriedigung verspricht, ist man doch über¬
zeugt, daß ein Stück eigentümlicher, scharfer Beobachtung, charakteristischer
Schilderung von Land und Leuten seinen Erfindungen zu Grunde liegt, und
rechnet ans ein treues Bild verborgner Erdenwinkel und schwer zugänglicher
Häuser. Wer aber eine Reihe der besten kleinern Erzählungen von Franzos und
vor allen Dingen den Roman „Ein Kampf ums Recht" im Gedächtnis hat,
wird und darf mehr erwarten, und in der That gehört auch der Roman
»Judith Trachtenberg" «ach der Seite des lebendigen, energischen Vortrages und
der sinnlichen Anschaulichkeit zu seinen besten Leistungen. Leider läßt sich den
Vorgängen und Menschen der Erzählung selbst — gleichviel ob sie freie Er¬
findung oder Wiedergabe der Wirklichkeit sind — nicht nachrühmen, daß sie
ein tieferes Interesse erregten als das, was wir an widerspruchsvoll seltsamen
Erlebnissen und unerquickliche« Schicksalen doch auch nehmen müssen. Nach der
gegenwärtig proklamirten Anschauung ist es freilich unzulässig, dem dargestellten
Leben gegenüber, wenn es nur Leben ist, von Shmpnthie und Antipathie zu
sprechen. Doch ein Schriftsteller, wie der Verfasser der Bilder „Aus Halb¬
asien" und des erschütternden Romans „Ein Kampf ums Recht", weiß sehr
gut, daß am letzten Ende die Empfindung unbesieglich ist und, wenn anch
nicht über den Kunstwert, so doch über die lebendige, dauernde Wirkuugsfühigkeit
jeder Dichtung, ihre Kraft, Sympathie zu wecken, entscheidet. In der von ihm
dargestellten tragischen Episode aus dem pvdolischen Leben aber ist fast in allen
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[0323] Judith Trachtenberg Unehrlichkeit, der Fälschung und der treulosen Gesinnung anklagt, wie es der Prinz Napoleon gethan hat, so thut man dem Geschichtschreiber sicher Unrecht, Taine steht mit allen heilten Bestrebungen und Arbeiten über allen Parteien und persönlichen Interessen; er hat es verstanden, sich nach und nach bei allen politischen Parteien in Frankreich mißliebig zu machen, und das spricht sicher für seinen ehrlichen Charakter und seine ehrliche Überzeugung. Judith Trachtenberg me neue Erzählung von Karl Emil Franzos, die ans dem ihm vertrauten Boden von „Halbasien", von Galizien spielt, ist von vornherein der Teilnahme großer Leserkreise sicher. Auch da, wo mau sich von der Darstellungsweise des Schriftstellers keine eigentlich ästhetische Befriedigung verspricht, ist man doch über¬ zeugt, daß ein Stück eigentümlicher, scharfer Beobachtung, charakteristischer Schilderung von Land und Leuten seinen Erfindungen zu Grunde liegt, und rechnet ans ein treues Bild verborgner Erdenwinkel und schwer zugänglicher Häuser. Wer aber eine Reihe der besten kleinern Erzählungen von Franzos und vor allen Dingen den Roman „Ein Kampf ums Recht" im Gedächtnis hat, wird und darf mehr erwarten, und in der That gehört auch der Roman »Judith Trachtenberg" «ach der Seite des lebendigen, energischen Vortrages und der sinnlichen Anschaulichkeit zu seinen besten Leistungen. Leider läßt sich den Vorgängen und Menschen der Erzählung selbst — gleichviel ob sie freie Er¬ findung oder Wiedergabe der Wirklichkeit sind — nicht nachrühmen, daß sie ein tieferes Interesse erregten als das, was wir an widerspruchsvoll seltsamen Erlebnissen und unerquickliche« Schicksalen doch auch nehmen müssen. Nach der gegenwärtig proklamirten Anschauung ist es freilich unzulässig, dem dargestellten Leben gegenüber, wenn es nur Leben ist, von Shmpnthie und Antipathie zu sprechen. Doch ein Schriftsteller, wie der Verfasser der Bilder „Aus Halb¬ asien" und des erschütternden Romans „Ein Kampf ums Recht", weiß sehr gut, daß am letzten Ende die Empfindung unbesieglich ist und, wenn anch nicht über den Kunstwert, so doch über die lebendige, dauernde Wirkuugsfühigkeit jeder Dichtung, ihre Kraft, Sympathie zu wecken, entscheidet. In der von ihm dargestellten tragischen Episode aus dem pvdolischen Leben aber ist fast in allen Gestalten etwas vorhanden, was die reine Teilnahme nicht aufkommen läßt, was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/323>, abgerufen am 22.07.2024.