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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Volksschule und Volksleben

wird, sie liegt in dem Gange menschlicher Dinge. Man kann bei den ver-
schiednen Graden von nationaler und gesellschaftlicher Bildung und Unbildung
füglich an eine große Erziehungsanstalt mit vielen Klassen erinnert werden.
Wie groß ist die Verschiedenheit der Schüler je unes den vielen Klassen, in
denen die Gruppen sitzen! Aber eins ist allen gemeinsam, die Bewegung nach
oben. Man muß wohl Geduld haben, deun die Völker kommen nicht so schnell
vorwärts wie die Einzelnen. Aber die Zuversicht, daß sie vorwärts kommen,
darf man nicht den Naturforschern überlassen, die sie unermüdet predigen, auch
die ganze menschliche Kultur darf sich demselben Glauben hingeben, bei aller
Bescheidenheit gegenüber dem Wissen von der Zukunft.




Volksschule und Volksleben

uf dem achten deutsche" Lehrertage, der vorige Pfingsten stattfand,
wurden neben den Hauptversammlungen noch eine Menge Versamm¬
lungen für besondre Zwecke abgehalten. In einer derselben klärte der
Ethnologe Dr. NlrichJahn eineAnznhl von Lehrern, die das Museum
für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes
besucht hatten, über den Zweck dieser Sammlung und die Gegenstände der
ethnologischen Wissenschaft auf. Er erörterte die Begriffe Volksglauben, Aber¬
glauben, Mhthns, Legende, historische Sage, Namensage, Loknlsage, Volks¬
brauch, Volkssitte, Volksgewvhuheit, sprach auch vou Volksliedern und Märchen,
und wie wichtig alle diese Dinge für die prähistorische und die Altertums¬
wissenschaft, für Völkerkunde, Völkerpsychologie, Anthropologie und Kultur¬
geschichte seien. "Rings umgeben von diesem wichtigen Material -- sagte
er -- ist nun der Volksschullehrer. Man hört so oft klagen, daß den Herren
auf dem Lande die Anregung fehle, sich fortzubilden; mögen sie doch Herein¬
greifen ^hineingreifen!^ in den Überfluß um sich her und den obengenannten
Wissenschaften ihre Dienste widmen, zunächst als Sammler und dann als
Forscher. Sie werden dadurch die geistige Leere im Innern füllen, den
Wirkungskreis lieb gewinnen und lernen, für ihn Verständnis zu gewinnen,
und darüber noch der Wissenschaft einen hervorragenden Dienst erweisen."

Bisher, klagte er, hätten die Gebildeten im allgemeinen und die Lehrer
im besondern wenig Sinn für diese Gegenstände bekundet; sie aufzusuchen fehle
ihnen die Lust, und wenn sie ja etwas davon wahrnahmen, so gehe ihnen die


Grenzboten I 18V1 33
Volksschule und Volksleben

wird, sie liegt in dem Gange menschlicher Dinge. Man kann bei den ver-
schiednen Graden von nationaler und gesellschaftlicher Bildung und Unbildung
füglich an eine große Erziehungsanstalt mit vielen Klassen erinnert werden.
Wie groß ist die Verschiedenheit der Schüler je unes den vielen Klassen, in
denen die Gruppen sitzen! Aber eins ist allen gemeinsam, die Bewegung nach
oben. Man muß wohl Geduld haben, deun die Völker kommen nicht so schnell
vorwärts wie die Einzelnen. Aber die Zuversicht, daß sie vorwärts kommen,
darf man nicht den Naturforschern überlassen, die sie unermüdet predigen, auch
die ganze menschliche Kultur darf sich demselben Glauben hingeben, bei aller
Bescheidenheit gegenüber dem Wissen von der Zukunft.




Volksschule und Volksleben

uf dem achten deutsche» Lehrertage, der vorige Pfingsten stattfand,
wurden neben den Hauptversammlungen noch eine Menge Versamm¬
lungen für besondre Zwecke abgehalten. In einer derselben klärte der
Ethnologe Dr. NlrichJahn eineAnznhl von Lehrern, die das Museum
für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes
besucht hatten, über den Zweck dieser Sammlung und die Gegenstände der
ethnologischen Wissenschaft auf. Er erörterte die Begriffe Volksglauben, Aber¬
glauben, Mhthns, Legende, historische Sage, Namensage, Loknlsage, Volks¬
brauch, Volkssitte, Volksgewvhuheit, sprach auch vou Volksliedern und Märchen,
und wie wichtig alle diese Dinge für die prähistorische und die Altertums¬
wissenschaft, für Völkerkunde, Völkerpsychologie, Anthropologie und Kultur¬
geschichte seien. „Rings umgeben von diesem wichtigen Material — sagte
er — ist nun der Volksschullehrer. Man hört so oft klagen, daß den Herren
auf dem Lande die Anregung fehle, sich fortzubilden; mögen sie doch Herein¬
greifen ^hineingreifen!^ in den Überfluß um sich her und den obengenannten
Wissenschaften ihre Dienste widmen, zunächst als Sammler und dann als
Forscher. Sie werden dadurch die geistige Leere im Innern füllen, den
Wirkungskreis lieb gewinnen und lernen, für ihn Verständnis zu gewinnen,
und darüber noch der Wissenschaft einen hervorragenden Dienst erweisen."

Bisher, klagte er, hätten die Gebildeten im allgemeinen und die Lehrer
im besondern wenig Sinn für diese Gegenstände bekundet; sie aufzusuchen fehle
ihnen die Lust, und wenn sie ja etwas davon wahrnahmen, so gehe ihnen die


Grenzboten I 18V1 33
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[0265] Volksschule und Volksleben wird, sie liegt in dem Gange menschlicher Dinge. Man kann bei den ver- schiednen Graden von nationaler und gesellschaftlicher Bildung und Unbildung füglich an eine große Erziehungsanstalt mit vielen Klassen erinnert werden. Wie groß ist die Verschiedenheit der Schüler je unes den vielen Klassen, in denen die Gruppen sitzen! Aber eins ist allen gemeinsam, die Bewegung nach oben. Man muß wohl Geduld haben, deun die Völker kommen nicht so schnell vorwärts wie die Einzelnen. Aber die Zuversicht, daß sie vorwärts kommen, darf man nicht den Naturforschern überlassen, die sie unermüdet predigen, auch die ganze menschliche Kultur darf sich demselben Glauben hingeben, bei aller Bescheidenheit gegenüber dem Wissen von der Zukunft. Volksschule und Volksleben uf dem achten deutsche» Lehrertage, der vorige Pfingsten stattfand, wurden neben den Hauptversammlungen noch eine Menge Versamm¬ lungen für besondre Zwecke abgehalten. In einer derselben klärte der Ethnologe Dr. NlrichJahn eineAnznhl von Lehrern, die das Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes besucht hatten, über den Zweck dieser Sammlung und die Gegenstände der ethnologischen Wissenschaft auf. Er erörterte die Begriffe Volksglauben, Aber¬ glauben, Mhthns, Legende, historische Sage, Namensage, Loknlsage, Volks¬ brauch, Volkssitte, Volksgewvhuheit, sprach auch vou Volksliedern und Märchen, und wie wichtig alle diese Dinge für die prähistorische und die Altertums¬ wissenschaft, für Völkerkunde, Völkerpsychologie, Anthropologie und Kultur¬ geschichte seien. „Rings umgeben von diesem wichtigen Material — sagte er — ist nun der Volksschullehrer. Man hört so oft klagen, daß den Herren auf dem Lande die Anregung fehle, sich fortzubilden; mögen sie doch Herein¬ greifen ^hineingreifen!^ in den Überfluß um sich her und den obengenannten Wissenschaften ihre Dienste widmen, zunächst als Sammler und dann als Forscher. Sie werden dadurch die geistige Leere im Innern füllen, den Wirkungskreis lieb gewinnen und lernen, für ihn Verständnis zu gewinnen, und darüber noch der Wissenschaft einen hervorragenden Dienst erweisen." Bisher, klagte er, hätten die Gebildeten im allgemeinen und die Lehrer im besondern wenig Sinn für diese Gegenstände bekundet; sie aufzusuchen fehle ihnen die Lust, und wenn sie ja etwas davon wahrnahmen, so gehe ihnen die Grenzboten I 18V1 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/265>, abgerufen am 22.07.2024.