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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

Raimunds Stücke haben ihre stärkste Wirkung durch das behagliche Verharren
in der Situation, wobei die Handlung scheinbar stille steht. Diese Frende
am Znständlichen ist die eigentliche Dichterfreude: da weht uns Poesie an.
Darum tadle man Rosegger nicht, das; er eben ein Dichter ist. Die Poesie
weht durch das ganze Stück; nur fühlt mau zuweilen ans den Worten mehr
den Dichter als seine Figuren sprechen. Doch das sind Schwächen, die
Rosegger mit der Zeit wohl überwinden wird. Ein litterarisch denkwürdiges
Ereignis bleibt sein "Tag des Gerichts" i" jedem Falle -- droh der Kälte
der Wiener Kritik.


IIIoritz Wecker


Litteratur
Die Socialdemokratie und der moderne Staat. Berlin, Kurt Brachvogel, 18VV

Der Verfasser dringt mit tiefem und klarem Blick in das innerste Getriebe
der den Staatskörper bewegenden .Kräfte ein und deckt die. Stellen, auf, wo es
fehlt. Wir Mäuschen dem Schriftchen die weiteste Verbreitung, namentlich in den
Beamtenkreisen, und verraten deshalb absichtlich nichts von seinen Grundgedanken.


Religiöse Weltanschauung. Gedanken über Glauben, Religion und Kirche. Von
Adolf Freiherrn von Marschall. Dritte Auflage. Berlin, Reuther, 1890

Es sind das Gedanken, wie mau sie bei religiösen, aber nicht orthodoxen
Protestanten gewöhnlich findet; recht hübsch und erbaulich zu lesen, wenn anch nichts
Neues darin steht. In der ersten, 1383 erschienenen Auflage hatte sich Herr von
Mnrschall -- es ist der vormalige badische Minister -- als hochbetagten Laien
gezeichnet, diesmal nennt er seinen Name". Zur Charakteristik des Standpunktes
greisen wir ein paar Sätze heraus. "Allerdings ist die Moral nicht Metaphysik,
keineswegs aber dieser entgegengesetzt, denn sie sehnt sich nach einer solchen, in
demutvoller Resignation flieh: in der deiuntvollen ResignationZ, daß diese Sehnsucht
nicht in diesem irdischen, sondern erst in einem höhern Leben gestillt werden kann;
und wie sollte sie Gefühl und doch der Moral entgegengesetzt sein, während das
mächtigste Gefühl im Menschen das moralische Gefühl ist? Die verführerische
Sinnlichkeit, aber nicht die Sündhaftigkeit, wird mit dem Menschen geboren und
vererbt. Darüber werden nur alle einverstanden sein, daß vor dem allmächtigen
Gott überhaupt kein Wunder besteht, nud daß für uns Menschen, Gott gegenüber,
alles ein Wunder ist." Eine Kapitelüberschrift lautet: "Das Verlangen einer mit
allzuviel historischem und spekulativem Detail in Worte gefaßten kirchlichen Be¬
kenntnistreue ist der Einheit nicht förderlich." Dem Gedanken dieses Satzes pflichten
wir bei, aber der Ausdruck klingt wunderlich.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grnuow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

Raimunds Stücke haben ihre stärkste Wirkung durch das behagliche Verharren
in der Situation, wobei die Handlung scheinbar stille steht. Diese Frende
am Znständlichen ist die eigentliche Dichterfreude: da weht uns Poesie an.
Darum tadle man Rosegger nicht, das; er eben ein Dichter ist. Die Poesie
weht durch das ganze Stück; nur fühlt mau zuweilen ans den Worten mehr
den Dichter als seine Figuren sprechen. Doch das sind Schwächen, die
Rosegger mit der Zeit wohl überwinden wird. Ein litterarisch denkwürdiges
Ereignis bleibt sein „Tag des Gerichts" i» jedem Falle — droh der Kälte
der Wiener Kritik.


IIIoritz Wecker


Litteratur
Die Socialdemokratie und der moderne Staat. Berlin, Kurt Brachvogel, 18VV

Der Verfasser dringt mit tiefem und klarem Blick in das innerste Getriebe
der den Staatskörper bewegenden .Kräfte ein und deckt die. Stellen, auf, wo es
fehlt. Wir Mäuschen dem Schriftchen die weiteste Verbreitung, namentlich in den
Beamtenkreisen, und verraten deshalb absichtlich nichts von seinen Grundgedanken.


Religiöse Weltanschauung. Gedanken über Glauben, Religion und Kirche. Von
Adolf Freiherrn von Marschall. Dritte Auflage. Berlin, Reuther, 1890

Es sind das Gedanken, wie mau sie bei religiösen, aber nicht orthodoxen
Protestanten gewöhnlich findet; recht hübsch und erbaulich zu lesen, wenn anch nichts
Neues darin steht. In der ersten, 1383 erschienenen Auflage hatte sich Herr von
Mnrschall — es ist der vormalige badische Minister — als hochbetagten Laien
gezeichnet, diesmal nennt er seinen Name». Zur Charakteristik des Standpunktes
greisen wir ein paar Sätze heraus. „Allerdings ist die Moral nicht Metaphysik,
keineswegs aber dieser entgegengesetzt, denn sie sehnt sich nach einer solchen, in
demutvoller Resignation flieh: in der deiuntvollen ResignationZ, daß diese Sehnsucht
nicht in diesem irdischen, sondern erst in einem höhern Leben gestillt werden kann;
und wie sollte sie Gefühl und doch der Moral entgegengesetzt sein, während das
mächtigste Gefühl im Menschen das moralische Gefühl ist? Die verführerische
Sinnlichkeit, aber nicht die Sündhaftigkeit, wird mit dem Menschen geboren und
vererbt. Darüber werden nur alle einverstanden sein, daß vor dem allmächtigen
Gott überhaupt kein Wunder besteht, nud daß für uns Menschen, Gott gegenüber,
alles ein Wunder ist." Eine Kapitelüberschrift lautet: „Das Verlangen einer mit
allzuviel historischem und spekulativem Detail in Worte gefaßten kirchlichen Be¬
kenntnistreue ist der Einheit nicht förderlich." Dem Gedanken dieses Satzes pflichten
wir bei, aber der Ausdruck klingt wunderlich.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grnuow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0104] Litteratur Raimunds Stücke haben ihre stärkste Wirkung durch das behagliche Verharren in der Situation, wobei die Handlung scheinbar stille steht. Diese Frende am Znständlichen ist die eigentliche Dichterfreude: da weht uns Poesie an. Darum tadle man Rosegger nicht, das; er eben ein Dichter ist. Die Poesie weht durch das ganze Stück; nur fühlt mau zuweilen ans den Worten mehr den Dichter als seine Figuren sprechen. Doch das sind Schwächen, die Rosegger mit der Zeit wohl überwinden wird. Ein litterarisch denkwürdiges Ereignis bleibt sein „Tag des Gerichts" i» jedem Falle — droh der Kälte der Wiener Kritik. IIIoritz Wecker Litteratur Die Socialdemokratie und der moderne Staat. Berlin, Kurt Brachvogel, 18VV Der Verfasser dringt mit tiefem und klarem Blick in das innerste Getriebe der den Staatskörper bewegenden .Kräfte ein und deckt die. Stellen, auf, wo es fehlt. Wir Mäuschen dem Schriftchen die weiteste Verbreitung, namentlich in den Beamtenkreisen, und verraten deshalb absichtlich nichts von seinen Grundgedanken. Religiöse Weltanschauung. Gedanken über Glauben, Religion und Kirche. Von Adolf Freiherrn von Marschall. Dritte Auflage. Berlin, Reuther, 1890 Es sind das Gedanken, wie mau sie bei religiösen, aber nicht orthodoxen Protestanten gewöhnlich findet; recht hübsch und erbaulich zu lesen, wenn anch nichts Neues darin steht. In der ersten, 1383 erschienenen Auflage hatte sich Herr von Mnrschall — es ist der vormalige badische Minister — als hochbetagten Laien gezeichnet, diesmal nennt er seinen Name». Zur Charakteristik des Standpunktes greisen wir ein paar Sätze heraus. „Allerdings ist die Moral nicht Metaphysik, keineswegs aber dieser entgegengesetzt, denn sie sehnt sich nach einer solchen, in demutvoller Resignation flieh: in der deiuntvollen ResignationZ, daß diese Sehnsucht nicht in diesem irdischen, sondern erst in einem höhern Leben gestillt werden kann; und wie sollte sie Gefühl und doch der Moral entgegengesetzt sein, während das mächtigste Gefühl im Menschen das moralische Gefühl ist? Die verführerische Sinnlichkeit, aber nicht die Sündhaftigkeit, wird mit dem Menschen geboren und vererbt. Darüber werden nur alle einverstanden sein, daß vor dem allmächtigen Gott überhaupt kein Wunder besteht, nud daß für uns Menschen, Gott gegenüber, alles ein Wunder ist." Eine Kapitelüberschrift lautet: „Das Verlangen einer mit allzuviel historischem und spekulativem Detail in Worte gefaßten kirchlichen Be¬ kenntnistreue ist der Einheit nicht förderlich." Dem Gedanken dieses Satzes pflichten wir bei, aber der Ausdruck klingt wunderlich. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grnuow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/104>, abgerufen am 22.07.2024.