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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

zweiflung über die Verworrenheit der deutschen Parteiverhältnisse werden,
sondern kurz vor dem Kloster bricht Heinrich halbtot vor Schwäche zusammen
und gerät nach der klugen Vorsehung des Dichters in das Haus seines alten
väterlichen Freundes, jenes Stadtpfarrers ans der Heimat, der nach Italien
übergesiedelt ist, um dort seinen Lebensabend freudig zu genießen. Hier genest
Heinrich von seelischer und leiblicher Krankheit und gewinnt die Lebenslust
wieder. Nur muß er sich noch überflüssigerweise als ein Grafensohn entpuppen,
um dann noch die adliche Geliebte heiraten zu können.

Diese poetischen Schwächen sind auch hier das Kennzeichen des Tendenz-
rvmans. Alle hübschen und aus guter Kenntnis geschöpften Schilderungen
Berlins, seines öffentlichen und politischen Lebens können für diese Mängel
nicht entschädigen. Aber da die Tendenz gesund ist, so darf man den Roman
nicht tadeln. Jedenfalls erhebt er sich über die Dutzendware der Leihbibliotheken
infolge der reichern Bildung des Verfassers.


in. N.


Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zum erstell April -- eine Erinnerung.

Ich wurde 1359 Student.
Mein "Wechsel" war nicht groß; für die eigentlichen Studentenfrenden konnte ich
wenig aufwenden und hatte darum umsomehr Zeit, mich mit ernsten Dingen zu
beschäftige", besonders mit Geschichte und Politik. Es wurde damals schon üblich,
daß die Meister deutscher Wissenschaft es nicht verschmähten, die Ergebnisse ihrer
Wissenschaft der ganzen gebildeten Welt zugänglich zu machen; es erschienen nach
und nach jene herrlichen Meisterwerke deutscher Geschichtschreibung, auf die wir
immer stolz sein werden. Mit Freuden ließ man sich von des Darstellers an¬
mutender Erzählung in die glanzvollen Tage der Vergangenheit versetzen, wo das
deutsche Reich das weltgebietenoe war.

Umso unbefriedigender war der Blick ans die Gegenwart. Wohl wies in den
Gymnasien mancher Lehrer der Geographie triumphirend darauf hin, daß der
deutsche Bund mit Österreichs und Preußens außerdeutschen Ländern an siebzig
Millionen Einwohner habe, also der mächtigste Staat Europas sei; aber wir wußten
es besser, nur wußten, daß dieser Bund kein Bund, dieser Staat kein Staat war.

In den Mittelstaaten, besonders in dem, wo ich lebte, spukte damals bei Fürst
und Regierung die Preußenfurcht. Das Jahr 1848 lag noch jedem in den
Gliedern; man halte vor den damals entfesselten Geistern gezittert, auch vor dein
preußischen Erbkaisertum. Was nur prenßenfeindlich war, wurde als Gesimmngs-
tüchtigkeit, als Treue gegen das angestammte Fürstenhaus gepriesen. Der
Nationalvercin wurde in keinem Lande mehr gehaßt, als bei uns. Selbst das


Maßgebliches und Unmaßgebliches

zweiflung über die Verworrenheit der deutschen Parteiverhältnisse werden,
sondern kurz vor dem Kloster bricht Heinrich halbtot vor Schwäche zusammen
und gerät nach der klugen Vorsehung des Dichters in das Haus seines alten
väterlichen Freundes, jenes Stadtpfarrers ans der Heimat, der nach Italien
übergesiedelt ist, um dort seinen Lebensabend freudig zu genießen. Hier genest
Heinrich von seelischer und leiblicher Krankheit und gewinnt die Lebenslust
wieder. Nur muß er sich noch überflüssigerweise als ein Grafensohn entpuppen,
um dann noch die adliche Geliebte heiraten zu können.

Diese poetischen Schwächen sind auch hier das Kennzeichen des Tendenz-
rvmans. Alle hübschen und aus guter Kenntnis geschöpften Schilderungen
Berlins, seines öffentlichen und politischen Lebens können für diese Mängel
nicht entschädigen. Aber da die Tendenz gesund ist, so darf man den Roman
nicht tadeln. Jedenfalls erhebt er sich über die Dutzendware der Leihbibliotheken
infolge der reichern Bildung des Verfassers.


in. N.


Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zum erstell April — eine Erinnerung.

Ich wurde 1359 Student.
Mein „Wechsel" war nicht groß; für die eigentlichen Studentenfrenden konnte ich
wenig aufwenden und hatte darum umsomehr Zeit, mich mit ernsten Dingen zu
beschäftige», besonders mit Geschichte und Politik. Es wurde damals schon üblich,
daß die Meister deutscher Wissenschaft es nicht verschmähten, die Ergebnisse ihrer
Wissenschaft der ganzen gebildeten Welt zugänglich zu machen; es erschienen nach
und nach jene herrlichen Meisterwerke deutscher Geschichtschreibung, auf die wir
immer stolz sein werden. Mit Freuden ließ man sich von des Darstellers an¬
mutender Erzählung in die glanzvollen Tage der Vergangenheit versetzen, wo das
deutsche Reich das weltgebietenoe war.

Umso unbefriedigender war der Blick ans die Gegenwart. Wohl wies in den
Gymnasien mancher Lehrer der Geographie triumphirend darauf hin, daß der
deutsche Bund mit Österreichs und Preußens außerdeutschen Ländern an siebzig
Millionen Einwohner habe, also der mächtigste Staat Europas sei; aber wir wußten
es besser, nur wußten, daß dieser Bund kein Bund, dieser Staat kein Staat war.

In den Mittelstaaten, besonders in dem, wo ich lebte, spukte damals bei Fürst
und Regierung die Preußenfurcht. Das Jahr 1848 lag noch jedem in den
Gliedern; man halte vor den damals entfesselten Geistern gezittert, auch vor dein
preußischen Erbkaisertum. Was nur prenßenfeindlich war, wurde als Gesimmngs-
tüchtigkeit, als Treue gegen das angestammte Fürstenhaus gepriesen. Der
Nationalvercin wurde in keinem Lande mehr gehaßt, als bei uns. Selbst das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/46>, abgerufen am 26.06.2024.