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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die Shakespeare-Bacon-Frage

Inhalt als für den Jugendunterricht geeignet empfehlen, heißt jenem ""klaren
Idealismus, der sich undvgmatisches Christentum nennt, Vorschub leisten. Ich
bezweifle die Möglichkeit, "religiöses Gefühl überhaupt" der Jugend nahe zu
bringe", ohne auf eine bestimmte Religion und auf einen bestimmten Glaubeus-
inhalt Rücksicht zu nehmen, da Religiosität erst etwas von den einzelnen Re-
ligionsformen abstrahirtes ist. Herrn Güßfeldts Meinung entspringt einem
unklaren Streben nach Objektivität und Toleranz.

Endlich empfiehlt er uns einen religionslosen Moratismus für die Schule.
Religion und Moral, meint er, treffen nicht in allen Punkten zusammen. Zum
Beweise dient ihm das Duell, das er für lehr moralisch hält. Der Staat
bestraft also eine moralische Handlung! Auch kennt er "charakterfeste, groß
und edel empfindende Atheisten," die mit der öffentlichen Moral niemals in
Widerspruch geraten. Ich kenne anch Atheisten, die Anarchisten sind. Wenn
in der Schule von Sittlichkeit die Rede ist, darf sie nicht zur Gesetzlichkeit zu¬
sammenschrumpfen. "Niemand ist gut denn Gott," hat der Meister aller Er¬
zieher gesagt. Sittlichkeit ohne ein höchstes Ideal wird immer am Boden
kriechen.

Der letzte Abschnitt des Buches handelt von der körperlichen Erziehung
der Jugend. Die große Nützlichkeit vou Leibesübungen stellt heute niemand
in Abrede; es handelt sich nur darum, wie sie am besten in den Nahmen der
gesamten Erziehung einzufügen sind.

Unterricht und Erziehung sind eine einheitliche Kunst, die sich ans einer
Summe vieler Erfahrungen aufbaut. Aber nicht jeder, der eine reiche Lebens¬
erfahrung hat, ist darum schou ihr Jünger. Erfahrung ist ein Wissen, aber
noch nicht das Können. Erst Ausübung der Kunst giebt das Anrecht auf
Jüngerschaft. Aber auch hier gilt: der Jünger sind viele, aber selten ist der
Meister.




Die 5>hakespeare-Vacon-Frage
von Richard winter

in Jahre 175)9 wurde durch deu berühmten englischen Schattspieler
Gnrrick eine Posse in London mit großem Erfolg auf die Busen'
gebracht und bald in ganz England beliebt: "Die vornehme Welt
in der Bedienteustube"' (K^it 'l^tlo dvlvvv 8wir"). Der Witz des
...Stückes liegt darin, daß Diener und Dienerinnen höherer und
niederer Art in der Abwesenheit ihrer Herrschaften diese in ihrem Wesen und
ihren Lebensgewohnheiten nachahmen und dadurch die ganze Hohlheit, Ver-


Die Shakespeare-Bacon-Frage

Inhalt als für den Jugendunterricht geeignet empfehlen, heißt jenem »»klaren
Idealismus, der sich undvgmatisches Christentum nennt, Vorschub leisten. Ich
bezweifle die Möglichkeit, „religiöses Gefühl überhaupt" der Jugend nahe zu
bringe», ohne auf eine bestimmte Religion und auf einen bestimmten Glaubeus-
inhalt Rücksicht zu nehmen, da Religiosität erst etwas von den einzelnen Re-
ligionsformen abstrahirtes ist. Herrn Güßfeldts Meinung entspringt einem
unklaren Streben nach Objektivität und Toleranz.

Endlich empfiehlt er uns einen religionslosen Moratismus für die Schule.
Religion und Moral, meint er, treffen nicht in allen Punkten zusammen. Zum
Beweise dient ihm das Duell, das er für lehr moralisch hält. Der Staat
bestraft also eine moralische Handlung! Auch kennt er „charakterfeste, groß
und edel empfindende Atheisten," die mit der öffentlichen Moral niemals in
Widerspruch geraten. Ich kenne anch Atheisten, die Anarchisten sind. Wenn
in der Schule von Sittlichkeit die Rede ist, darf sie nicht zur Gesetzlichkeit zu¬
sammenschrumpfen. „Niemand ist gut denn Gott," hat der Meister aller Er¬
zieher gesagt. Sittlichkeit ohne ein höchstes Ideal wird immer am Boden
kriechen.

Der letzte Abschnitt des Buches handelt von der körperlichen Erziehung
der Jugend. Die große Nützlichkeit vou Leibesübungen stellt heute niemand
in Abrede; es handelt sich nur darum, wie sie am besten in den Nahmen der
gesamten Erziehung einzufügen sind.

Unterricht und Erziehung sind eine einheitliche Kunst, die sich ans einer
Summe vieler Erfahrungen aufbaut. Aber nicht jeder, der eine reiche Lebens¬
erfahrung hat, ist darum schou ihr Jünger. Erfahrung ist ein Wissen, aber
noch nicht das Können. Erst Ausübung der Kunst giebt das Anrecht auf
Jüngerschaft. Aber auch hier gilt: der Jünger sind viele, aber selten ist der
Meister.




Die 5>hakespeare-Vacon-Frage
von Richard winter

in Jahre 175)9 wurde durch deu berühmten englischen Schattspieler
Gnrrick eine Posse in London mit großem Erfolg auf die Busen'
gebracht und bald in ganz England beliebt: „Die vornehme Welt
in der Bedienteustube"' (K^it 'l^tlo dvlvvv 8wir«). Der Witz des
...Stückes liegt darin, daß Diener und Dienerinnen höherer und
niederer Art in der Abwesenheit ihrer Herrschaften diese in ihrem Wesen und
ihren Lebensgewohnheiten nachahmen und dadurch die ganze Hohlheit, Ver-


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[0234] Die Shakespeare-Bacon-Frage Inhalt als für den Jugendunterricht geeignet empfehlen, heißt jenem »»klaren Idealismus, der sich undvgmatisches Christentum nennt, Vorschub leisten. Ich bezweifle die Möglichkeit, „religiöses Gefühl überhaupt" der Jugend nahe zu bringe», ohne auf eine bestimmte Religion und auf einen bestimmten Glaubeus- inhalt Rücksicht zu nehmen, da Religiosität erst etwas von den einzelnen Re- ligionsformen abstrahirtes ist. Herrn Güßfeldts Meinung entspringt einem unklaren Streben nach Objektivität und Toleranz. Endlich empfiehlt er uns einen religionslosen Moratismus für die Schule. Religion und Moral, meint er, treffen nicht in allen Punkten zusammen. Zum Beweise dient ihm das Duell, das er für lehr moralisch hält. Der Staat bestraft also eine moralische Handlung! Auch kennt er „charakterfeste, groß und edel empfindende Atheisten," die mit der öffentlichen Moral niemals in Widerspruch geraten. Ich kenne anch Atheisten, die Anarchisten sind. Wenn in der Schule von Sittlichkeit die Rede ist, darf sie nicht zur Gesetzlichkeit zu¬ sammenschrumpfen. „Niemand ist gut denn Gott," hat der Meister aller Er¬ zieher gesagt. Sittlichkeit ohne ein höchstes Ideal wird immer am Boden kriechen. Der letzte Abschnitt des Buches handelt von der körperlichen Erziehung der Jugend. Die große Nützlichkeit vou Leibesübungen stellt heute niemand in Abrede; es handelt sich nur darum, wie sie am besten in den Nahmen der gesamten Erziehung einzufügen sind. Unterricht und Erziehung sind eine einheitliche Kunst, die sich ans einer Summe vieler Erfahrungen aufbaut. Aber nicht jeder, der eine reiche Lebens¬ erfahrung hat, ist darum schou ihr Jünger. Erfahrung ist ein Wissen, aber noch nicht das Können. Erst Ausübung der Kunst giebt das Anrecht auf Jüngerschaft. Aber auch hier gilt: der Jünger sind viele, aber selten ist der Meister. Die 5>hakespeare-Vacon-Frage von Richard winter in Jahre 175)9 wurde durch deu berühmten englischen Schattspieler Gnrrick eine Posse in London mit großem Erfolg auf die Busen' gebracht und bald in ganz England beliebt: „Die vornehme Welt in der Bedienteustube"' (K^it 'l^tlo dvlvvv 8wir«). Der Witz des ...Stückes liegt darin, daß Diener und Dienerinnen höherer und niederer Art in der Abwesenheit ihrer Herrschaften diese in ihrem Wesen und ihren Lebensgewohnheiten nachahmen und dadurch die ganze Hohlheit, Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/234>, abgerufen am 26.12.2024.