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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Erinnerungen an die Kaiserin Eugenie.

Die letzte" Jahre haben eine
Fülle von Erinnerungen um hervorragende Zeitgenossen aus deren unmittelbarer
llmgebnng gebracht, die mit mehr oder weniger Sinn für das Interessante und
mehr oder weniger treuem Gedächtnis gesammelt, alle aber wenigstens in einzelnen
Zügen von Wert für den Politiker der Gegenwart und dem zukünftigen Geschicht¬
schreiber waren. Dazu gesellte sich vor einiger Zeit der erste Band des Buches
einer Französin, das sich den in Anbetracht seines Inhalts etwas anspruchsvollen
Titel: "Der Vorabend des Falles eines Kaisertums" *) beigelegt hatte, und von
dem jetzt auch der zweite Band vorliegt. Die Verfasserin, eine Madame Carette,
war mit der Kaiserin Eugenie befreundet und hatte in dieser Stellung reichlich
Gelegenheit, diese, sowie ihren Gemahl und den kaiserlichen Prinzen zu sehen und
von intimen Kreisen von ihnen zu hören, und wenn sie ihre Herrin um die Er¬
laubnis befragt hat, das darüber Ausgezeichnete zu veröffentlichen, so wird man es
gewiß nicht tadeln, sondern nur loben können, daß dies geschehen ist, obwohl der
Umstand, daß eine Freundin uns schildert und erzählt, anch seine bedenkliche Seite
hat und die Zuverlässigkeit der Erinnerungen nicht gerade verbürgt, und obwohl
man von vornherein annehmen darf, die Kaiserin habe Madame Carette schwerlich
hinter den Schleier blicken lassen, der die Geheimnisse, der Politik ihres Gemahls
vor den Blicken gewöhnlicher Sterblichen verbarg. Das ergiebt sich denn auch aus
ihren Berichten. Wir können sie als Autorität betrachten, soweit es sich dabei um
das häusliche Leben in den Tuilerien und Se. Cloud, um die zärtliche Liebe
Eugenieus zu ihrem Sohne und ähnliches handelt, auch einige andre Züge und
einige Mitteilungen über den Charakter Ludwig Napoleons selbst, die sie macht,
verdienen Glauben; aber eiuen großen Teil dessen, was sie über die politischen Vor¬
kommnisse während der ersten Hälfte des Krieges mit Deutschland und die dabei
beteiligten Persönlichkeiten berichtet, werden wir mit Vorsicht aufzunehmen haben
und nicht ohne weiteres als Material für die Geschichte betrachten dürfe". So
scheint z. B. diese Gesellschafterin der Kaiserin deren Mißtrauen gegen den General
Trochu geteilt zu haben, und es fragt fich einigermaßen, ob das gerechtfertigt war.
Noch wichtiger ist, daß sie die Stellung und das Verfahren von Thiers während
der Krisis offenbar ""richtig aufgefaßt hat. Zweifelsohne war dieser hervorragende
Stnatsmcmu gegen eine Kriegserklärung an Preußen, aber durchaus nicht, weil er
gegen den Kampf grundsätzliche Abneigung empfunden hätte oder gnr weil er von
freundschaftlichen Gefühlen gegen die östlichen Nachbarn erfüllt gewesen wäre,
sondern weil er Frankreich augenblicklich nicht für stark genng hielt, um es mit der
großen deutschen Militärmacht erfolgreich aufzunehmen. Der Pariser Pöbel warf
ihm die Fenster ein, weil er sich weigerte, in das gefährliche Geschrei: ^ Lorlin
einzustimmen. Madame Carette erzählt uns, daß Thiers kurz zuvor, ehe der Krieg
thatsächlich ansbrnch, eine vertraute Freundin an die Herzogin von Mouchy, die



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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Erinnerungen an die Kaiserin Eugenie.

Die letzte» Jahre haben eine
Fülle von Erinnerungen um hervorragende Zeitgenossen aus deren unmittelbarer
llmgebnng gebracht, die mit mehr oder weniger Sinn für das Interessante und
mehr oder weniger treuem Gedächtnis gesammelt, alle aber wenigstens in einzelnen
Zügen von Wert für den Politiker der Gegenwart und dem zukünftigen Geschicht¬
schreiber waren. Dazu gesellte sich vor einiger Zeit der erste Band des Buches
einer Französin, das sich den in Anbetracht seines Inhalts etwas anspruchsvollen
Titel: „Der Vorabend des Falles eines Kaisertums" *) beigelegt hatte, und von
dem jetzt auch der zweite Band vorliegt. Die Verfasserin, eine Madame Carette,
war mit der Kaiserin Eugenie befreundet und hatte in dieser Stellung reichlich
Gelegenheit, diese, sowie ihren Gemahl und den kaiserlichen Prinzen zu sehen und
von intimen Kreisen von ihnen zu hören, und wenn sie ihre Herrin um die Er¬
laubnis befragt hat, das darüber Ausgezeichnete zu veröffentlichen, so wird man es
gewiß nicht tadeln, sondern nur loben können, daß dies geschehen ist, obwohl der
Umstand, daß eine Freundin uns schildert und erzählt, anch seine bedenkliche Seite
hat und die Zuverlässigkeit der Erinnerungen nicht gerade verbürgt, und obwohl
man von vornherein annehmen darf, die Kaiserin habe Madame Carette schwerlich
hinter den Schleier blicken lassen, der die Geheimnisse, der Politik ihres Gemahls
vor den Blicken gewöhnlicher Sterblichen verbarg. Das ergiebt sich denn auch aus
ihren Berichten. Wir können sie als Autorität betrachten, soweit es sich dabei um
das häusliche Leben in den Tuilerien und Se. Cloud, um die zärtliche Liebe
Eugenieus zu ihrem Sohne und ähnliches handelt, auch einige andre Züge und
einige Mitteilungen über den Charakter Ludwig Napoleons selbst, die sie macht,
verdienen Glauben; aber eiuen großen Teil dessen, was sie über die politischen Vor¬
kommnisse während der ersten Hälfte des Krieges mit Deutschland und die dabei
beteiligten Persönlichkeiten berichtet, werden wir mit Vorsicht aufzunehmen haben
und nicht ohne weiteres als Material für die Geschichte betrachten dürfe». So
scheint z. B. diese Gesellschafterin der Kaiserin deren Mißtrauen gegen den General
Trochu geteilt zu haben, und es fragt fich einigermaßen, ob das gerechtfertigt war.
Noch wichtiger ist, daß sie die Stellung und das Verfahren von Thiers während
der Krisis offenbar »»richtig aufgefaßt hat. Zweifelsohne war dieser hervorragende
Stnatsmcmu gegen eine Kriegserklärung an Preußen, aber durchaus nicht, weil er
gegen den Kampf grundsätzliche Abneigung empfunden hätte oder gnr weil er von
freundschaftlichen Gefühlen gegen die östlichen Nachbarn erfüllt gewesen wäre,
sondern weil er Frankreich augenblicklich nicht für stark genng hielt, um es mit der
großen deutschen Militärmacht erfolgreich aufzunehmen. Der Pariser Pöbel warf
ihm die Fenster ein, weil er sich weigerte, in das gefährliche Geschrei: ^ Lorlin
einzustimmen. Madame Carette erzählt uns, daß Thiers kurz zuvor, ehe der Krieg
thatsächlich ansbrnch, eine vertraute Freundin an die Herzogin von Mouchy, die



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[0301] Maßgebliches und Unmaßgebliches Erinnerungen an die Kaiserin Eugenie. Die letzte» Jahre haben eine Fülle von Erinnerungen um hervorragende Zeitgenossen aus deren unmittelbarer llmgebnng gebracht, die mit mehr oder weniger Sinn für das Interessante und mehr oder weniger treuem Gedächtnis gesammelt, alle aber wenigstens in einzelnen Zügen von Wert für den Politiker der Gegenwart und dem zukünftigen Geschicht¬ schreiber waren. Dazu gesellte sich vor einiger Zeit der erste Band des Buches einer Französin, das sich den in Anbetracht seines Inhalts etwas anspruchsvollen Titel: „Der Vorabend des Falles eines Kaisertums" *) beigelegt hatte, und von dem jetzt auch der zweite Band vorliegt. Die Verfasserin, eine Madame Carette, war mit der Kaiserin Eugenie befreundet und hatte in dieser Stellung reichlich Gelegenheit, diese, sowie ihren Gemahl und den kaiserlichen Prinzen zu sehen und von intimen Kreisen von ihnen zu hören, und wenn sie ihre Herrin um die Er¬ laubnis befragt hat, das darüber Ausgezeichnete zu veröffentlichen, so wird man es gewiß nicht tadeln, sondern nur loben können, daß dies geschehen ist, obwohl der Umstand, daß eine Freundin uns schildert und erzählt, anch seine bedenkliche Seite hat und die Zuverlässigkeit der Erinnerungen nicht gerade verbürgt, und obwohl man von vornherein annehmen darf, die Kaiserin habe Madame Carette schwerlich hinter den Schleier blicken lassen, der die Geheimnisse, der Politik ihres Gemahls vor den Blicken gewöhnlicher Sterblichen verbarg. Das ergiebt sich denn auch aus ihren Berichten. Wir können sie als Autorität betrachten, soweit es sich dabei um das häusliche Leben in den Tuilerien und Se. Cloud, um die zärtliche Liebe Eugenieus zu ihrem Sohne und ähnliches handelt, auch einige andre Züge und einige Mitteilungen über den Charakter Ludwig Napoleons selbst, die sie macht, verdienen Glauben; aber eiuen großen Teil dessen, was sie über die politischen Vor¬ kommnisse während der ersten Hälfte des Krieges mit Deutschland und die dabei beteiligten Persönlichkeiten berichtet, werden wir mit Vorsicht aufzunehmen haben und nicht ohne weiteres als Material für die Geschichte betrachten dürfe». So scheint z. B. diese Gesellschafterin der Kaiserin deren Mißtrauen gegen den General Trochu geteilt zu haben, und es fragt fich einigermaßen, ob das gerechtfertigt war. Noch wichtiger ist, daß sie die Stellung und das Verfahren von Thiers während der Krisis offenbar »»richtig aufgefaßt hat. Zweifelsohne war dieser hervorragende Stnatsmcmu gegen eine Kriegserklärung an Preußen, aber durchaus nicht, weil er gegen den Kampf grundsätzliche Abneigung empfunden hätte oder gnr weil er von freundschaftlichen Gefühlen gegen die östlichen Nachbarn erfüllt gewesen wäre, sondern weil er Frankreich augenblicklich nicht für stark genng hielt, um es mit der großen deutschen Militärmacht erfolgreich aufzunehmen. Der Pariser Pöbel warf ihm die Fenster ein, weil er sich weigerte, in das gefährliche Geschrei: ^ Lorlin einzustimmen. Madame Carette erzählt uns, daß Thiers kurz zuvor, ehe der Krieg thatsächlich ansbrnch, eine vertraute Freundin an die Herzogin von Mouchy, die *) 1« VviUo «,to in, «nudo et'un smxirv.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/301>, abgerufen am 22.07.2024.