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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Bedenken über die Sprachverbessernng

N'le man ans ihrer Skulptur sieht, beizeiten die Fesseln ihrer orientalische"
Schulmeister gesprengt und höchste Bildung mit reiner Natur vermählt. Ein
zweitesmal ist die europäische Menschheit zur Natur zurückgekehrt, als die
Denk-, Kunst- und Kirchenformen, die Windeln und Schienen, in denen das
Kindlein herangewachsen war, in der Renaissance und Reformation von den
kräftig entwickelten Gliedern abgestoßen wurden. Und die Sehnsucht uach einer
Wiedergeburt unsrer schönen und lieben deutschen Sprache, die sich heute in
den Herzen so vieler verständigen und patriotischen Männer regt, sie ist nur
eine besondre Äußerung des allgemeineren Bedürfnisses, die Natur vor all den
Moden, amtlichen und konventionellen Formen, den Menschenverstand vor dein
Übermaß unsrer Gelehrsamkeit und aus der zersplitterten Facharbeit die Ein¬
heit des ungeteilten, nnverstümmelten, nnverhnnzten Menschen zu retten. Ein
Gillet noch, daß wir wenigstens nicht in Gefahr schweben, gleich den Chinesen
zu erstarren, da wissenschaftliche, konfessionelle, politische und soziale Kämpfe
uns beständig in Atem und auf den Beinen erhalten.

2

Daß die Schule für unsre Muttersprache mehr thun sollte, als sie thut,
darin bin ich mit dem Verfasser der "Sprachdummheiten" einig; aber in Be¬
ziehung auf die Art und Weise, wie sie es thun sollte, stimme ich mit ihm
nicht ganz überein. Grammatischen Unterricht halte ich nicht nur nicht für
notwendig, sondern geradezu für schädlich und gefährlich. Die grammatische
Behandlung einer Sprache bedeutet ihre Sektion, und sezirt werden nur Leich¬
name. Wenn die bessern Geister eines Volkes fühlen, daß sie die Kraft ver¬
loren haben, selbst gut zu sprechen und zu schreiben, dann fangen sie an, die
Meisterwerke ihrer Sprache zu zergliedern und daran den Bau und die Ge¬
setze dieser Sprache zu erforschen; die Verlorne Kraft gewinnen sie dadurch
nicht wieder. Als Aristoteles die Wissenschaft der Grammatik erfnud, war die
goldne Zeit der griechischen Litteratur vorüber, und die fleißigen Grammatiker
Alexandriens haben keine zweite heraufgeführt. So ist die Sache bei allen
übrigen Kulturvölkern verlaufen. Wir Deutschen haben uns zweier klassischen
Perioden zu erfreue", aber beide sind ohne Beihilfe, ja ohne Kenntnis der
deutschen Grammatik aus dem gährenden Volksgeiste emporgestiegen, und wenn
unser Volk eine dritte erleben soll, dann -- scheint es mir -- muß es vorher
die deutsche Grammatik vergessen, die es nach Ablauf der zweiten aus den
Meisterwerken seiner Dichter, Erzähler und Denker hercmsdestillirt hat. Von
den größten Dichtern und Prosaisten aller Völker hat keiner die Grammatik
seiner Muttersprache studirt. Homer hatte keine Ahnung vo" einer solchen
Wissenschaft, und auch Sophokles und Plato konnten noch keinen Unterricht
darin empfangen. Wie hätte im dreizehnten Jahrhundert jemand auf den
Gedanken verfallen können, italienische Grammatck zu lehren? Trug doch


Bedenken über die Sprachverbessernng

N'le man ans ihrer Skulptur sieht, beizeiten die Fesseln ihrer orientalische»
Schulmeister gesprengt und höchste Bildung mit reiner Natur vermählt. Ein
zweitesmal ist die europäische Menschheit zur Natur zurückgekehrt, als die
Denk-, Kunst- und Kirchenformen, die Windeln und Schienen, in denen das
Kindlein herangewachsen war, in der Renaissance und Reformation von den
kräftig entwickelten Gliedern abgestoßen wurden. Und die Sehnsucht uach einer
Wiedergeburt unsrer schönen und lieben deutschen Sprache, die sich heute in
den Herzen so vieler verständigen und patriotischen Männer regt, sie ist nur
eine besondre Äußerung des allgemeineren Bedürfnisses, die Natur vor all den
Moden, amtlichen und konventionellen Formen, den Menschenverstand vor dein
Übermaß unsrer Gelehrsamkeit und aus der zersplitterten Facharbeit die Ein¬
heit des ungeteilten, nnverstümmelten, nnverhnnzten Menschen zu retten. Ein
Gillet noch, daß wir wenigstens nicht in Gefahr schweben, gleich den Chinesen
zu erstarren, da wissenschaftliche, konfessionelle, politische und soziale Kämpfe
uns beständig in Atem und auf den Beinen erhalten.

2

Daß die Schule für unsre Muttersprache mehr thun sollte, als sie thut,
darin bin ich mit dem Verfasser der „Sprachdummheiten" einig; aber in Be¬
ziehung auf die Art und Weise, wie sie es thun sollte, stimme ich mit ihm
nicht ganz überein. Grammatischen Unterricht halte ich nicht nur nicht für
notwendig, sondern geradezu für schädlich und gefährlich. Die grammatische
Behandlung einer Sprache bedeutet ihre Sektion, und sezirt werden nur Leich¬
name. Wenn die bessern Geister eines Volkes fühlen, daß sie die Kraft ver¬
loren haben, selbst gut zu sprechen und zu schreiben, dann fangen sie an, die
Meisterwerke ihrer Sprache zu zergliedern und daran den Bau und die Ge¬
setze dieser Sprache zu erforschen; die Verlorne Kraft gewinnen sie dadurch
nicht wieder. Als Aristoteles die Wissenschaft der Grammatik erfnud, war die
goldne Zeit der griechischen Litteratur vorüber, und die fleißigen Grammatiker
Alexandriens haben keine zweite heraufgeführt. So ist die Sache bei allen
übrigen Kulturvölkern verlaufen. Wir Deutschen haben uns zweier klassischen
Perioden zu erfreue«, aber beide sind ohne Beihilfe, ja ohne Kenntnis der
deutschen Grammatik aus dem gährenden Volksgeiste emporgestiegen, und wenn
unser Volk eine dritte erleben soll, dann — scheint es mir — muß es vorher
die deutsche Grammatik vergessen, die es nach Ablauf der zweiten aus den
Meisterwerken seiner Dichter, Erzähler und Denker hercmsdestillirt hat. Von
den größten Dichtern und Prosaisten aller Völker hat keiner die Grammatik
seiner Muttersprache studirt. Homer hatte keine Ahnung vo» einer solchen
Wissenschaft, und auch Sophokles und Plato konnten noch keinen Unterricht
darin empfangen. Wie hätte im dreizehnten Jahrhundert jemand auf den
Gedanken verfallen können, italienische Grammatck zu lehren? Trug doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/286>, abgerufen am 23.07.2024.