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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die Wohnungsfrage

is im Jahre 1886 der Verein für Sozialpolitik die Wohnungs¬
not der ärmern Volksklassen in den Großstädten zum Gegen¬
stande seiner Verhandlungen gemacht hatte, haben auch wir in
diesen Blattern (Jahrgang 1886, II, S. 509) die Frage be¬
sprochen. Wir wiesen ans die Schwierigkeiten hin, die sich einer
umfassenden Wirksamkeit ans diesem Gebiete entgegenstellen, und gelangten zu
dem Ergebnis, daß Wohl nur Unternehmungen, die von der Absicht deS Wohl-
thuns ausgehen, die Not einigermaßen lindern könnten. Die bisherige Er¬
fahrung hat uns insoweit recht gegeben, als seitdem die Lösung der Aufgabe,
vou vereinzelten Schöpfungen abgesehen, praktisch nirgends weiter geschritten
ist, Wohl aber hat man sie theoretisch im Auge behalte". Es liegen uns
hierfür zwei beachtenswerte Kundgebungen vor, die wir zum Gegenstände unsrer
Betrachtung macheu Wollen.

Vor kurzem ist ein vou dem Professor von Gneist erstatteter Bericht an
die Öffentlichkeit gelaugt, der über die Thätigkeit des zu Berlin bestehenden
Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen auf dem fraglichen Gebiete
Zeugnis ablegt. Dieser Verein hat sich die Beschaffung besserer Arbeiter-
wohnungen insbesondre für Berlin zur Aufgabe gestellt. Er hat zu diesem
Zwecke neben sich einen besondern Verein als Aktiengesellschaft gegründet.
Der letztere hat nun Mittel gesucht, rin in größerm Maßstabe neue Arbeiter-
wohnungen zu schaffen. Er hat aber die Erfahrung gemacht, daß so¬
wohl die Großindustrie als das Großkapital eine nennenswerte Beteiligung
dabei versagt hat. Statt der gehofften Million hat der Verein von wohl¬
wollenden Gönnern und mittels persönlicher Aufforderungen nur el" Kapital
von 500 000 Mark zusammengebracht. Es wird offen anerkannt, daß mit
den hierfür zu erlangenden paar Dutzend Häusern mit einigen hundert bessern
Wohnungen die Sache nicht gethan sei, da es sich um ein Bedürfnis bessrer
Wohnungen nach Zehntausenden handle und diese nnr durch Beteiligung größter
Kapitalmasseu beschafft werden können. Der Verein will nun mit der zusammen¬
gebrachten Summe zunächst nur experimental den Nachweis zu führen suchen,
daß Arbeiterwohnhäuser, die zu mäßigem Preisen den Mietern gesunde Wohnungen
gewähren, bei umsichtiger Verwaltung einen Zins von etwa vier Prozent ein¬
bringen können. Leider aber ergiebt zugleich der Bericht, daß Meinnugsver-




Die Wohnungsfrage

is im Jahre 1886 der Verein für Sozialpolitik die Wohnungs¬
not der ärmern Volksklassen in den Großstädten zum Gegen¬
stande seiner Verhandlungen gemacht hatte, haben auch wir in
diesen Blattern (Jahrgang 1886, II, S. 509) die Frage be¬
sprochen. Wir wiesen ans die Schwierigkeiten hin, die sich einer
umfassenden Wirksamkeit ans diesem Gebiete entgegenstellen, und gelangten zu
dem Ergebnis, daß Wohl nur Unternehmungen, die von der Absicht deS Wohl-
thuns ausgehen, die Not einigermaßen lindern könnten. Die bisherige Er¬
fahrung hat uns insoweit recht gegeben, als seitdem die Lösung der Aufgabe,
vou vereinzelten Schöpfungen abgesehen, praktisch nirgends weiter geschritten
ist, Wohl aber hat man sie theoretisch im Auge behalte». Es liegen uns
hierfür zwei beachtenswerte Kundgebungen vor, die wir zum Gegenstände unsrer
Betrachtung macheu Wollen.

Vor kurzem ist ein vou dem Professor von Gneist erstatteter Bericht an
die Öffentlichkeit gelaugt, der über die Thätigkeit des zu Berlin bestehenden
Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen auf dem fraglichen Gebiete
Zeugnis ablegt. Dieser Verein hat sich die Beschaffung besserer Arbeiter-
wohnungen insbesondre für Berlin zur Aufgabe gestellt. Er hat zu diesem
Zwecke neben sich einen besondern Verein als Aktiengesellschaft gegründet.
Der letztere hat nun Mittel gesucht, rin in größerm Maßstabe neue Arbeiter-
wohnungen zu schaffen. Er hat aber die Erfahrung gemacht, daß so¬
wohl die Großindustrie als das Großkapital eine nennenswerte Beteiligung
dabei versagt hat. Statt der gehofften Million hat der Verein von wohl¬
wollenden Gönnern und mittels persönlicher Aufforderungen nur el» Kapital
von 500 000 Mark zusammengebracht. Es wird offen anerkannt, daß mit
den hierfür zu erlangenden paar Dutzend Häusern mit einigen hundert bessern
Wohnungen die Sache nicht gethan sei, da es sich um ein Bedürfnis bessrer
Wohnungen nach Zehntausenden handle und diese nnr durch Beteiligung größter
Kapitalmasseu beschafft werden können. Der Verein will nun mit der zusammen¬
gebrachten Summe zunächst nur experimental den Nachweis zu führen suchen,
daß Arbeiterwohnhäuser, die zu mäßigem Preisen den Mietern gesunde Wohnungen
gewähren, bei umsichtiger Verwaltung einen Zins von etwa vier Prozent ein¬
bringen können. Leider aber ergiebt zugleich der Bericht, daß Meinnugsver-


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[0178] [Abbildung] Die Wohnungsfrage is im Jahre 1886 der Verein für Sozialpolitik die Wohnungs¬ not der ärmern Volksklassen in den Großstädten zum Gegen¬ stande seiner Verhandlungen gemacht hatte, haben auch wir in diesen Blattern (Jahrgang 1886, II, S. 509) die Frage be¬ sprochen. Wir wiesen ans die Schwierigkeiten hin, die sich einer umfassenden Wirksamkeit ans diesem Gebiete entgegenstellen, und gelangten zu dem Ergebnis, daß Wohl nur Unternehmungen, die von der Absicht deS Wohl- thuns ausgehen, die Not einigermaßen lindern könnten. Die bisherige Er¬ fahrung hat uns insoweit recht gegeben, als seitdem die Lösung der Aufgabe, vou vereinzelten Schöpfungen abgesehen, praktisch nirgends weiter geschritten ist, Wohl aber hat man sie theoretisch im Auge behalte». Es liegen uns hierfür zwei beachtenswerte Kundgebungen vor, die wir zum Gegenstände unsrer Betrachtung macheu Wollen. Vor kurzem ist ein vou dem Professor von Gneist erstatteter Bericht an die Öffentlichkeit gelaugt, der über die Thätigkeit des zu Berlin bestehenden Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen auf dem fraglichen Gebiete Zeugnis ablegt. Dieser Verein hat sich die Beschaffung besserer Arbeiter- wohnungen insbesondre für Berlin zur Aufgabe gestellt. Er hat zu diesem Zwecke neben sich einen besondern Verein als Aktiengesellschaft gegründet. Der letztere hat nun Mittel gesucht, rin in größerm Maßstabe neue Arbeiter- wohnungen zu schaffen. Er hat aber die Erfahrung gemacht, daß so¬ wohl die Großindustrie als das Großkapital eine nennenswerte Beteiligung dabei versagt hat. Statt der gehofften Million hat der Verein von wohl¬ wollenden Gönnern und mittels persönlicher Aufforderungen nur el» Kapital von 500 000 Mark zusammengebracht. Es wird offen anerkannt, daß mit den hierfür zu erlangenden paar Dutzend Häusern mit einigen hundert bessern Wohnungen die Sache nicht gethan sei, da es sich um ein Bedürfnis bessrer Wohnungen nach Zehntausenden handle und diese nnr durch Beteiligung größter Kapitalmasseu beschafft werden können. Der Verein will nun mit der zusammen¬ gebrachten Summe zunächst nur experimental den Nachweis zu führen suchen, daß Arbeiterwohnhäuser, die zu mäßigem Preisen den Mietern gesunde Wohnungen gewähren, bei umsichtiger Verwaltung einen Zins von etwa vier Prozent ein¬ bringen können. Leider aber ergiebt zugleich der Bericht, daß Meinnugsver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/178>, abgerufen am 23.07.2024.