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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Nur ein verletzendes Wort, ein Stoß mit dem Ellenbogen oder auch mir ein
kleiner Scherz mit dem Mädchen eines andern konnte plötzlich das ganze Lager
in Aufruhr versetzen. Und wenn dann der Kampf den Krug selber erreichte,
wurde die Verwirrung unbeschreiblich. Als lauerte" die Leidenschaften in
diesem unbändigen Schwarm nnr auf eine Gelegenheit, loszubrechen, konnte
sich im Handumdrehen ein wahrer Sturm von geballten Fäusten und drohenden
Stocken erheben, der sich mit Schreien und Flüchen bis an die Thür fortsetzte
und Unruhe und Verwirrung unter die sich bäumenden Pferde brachte. Da
flohen die Frauen mit Angstgeschrei und verbargen sich mit den Kindern nnter
den Wagen. Schwere schlüge fielen von den nervigen Fäusten der Juden,
während die gellenden Stimmen und die Knotenstöcke der Deutschen die Luft
durchdrängen.


>'!

Um diese Zeit, d. h. vor ungefähr zwanzig Jahren, lebte hier im Lande
ein kleines drolliges Männchen mit rotem, krausem Haar und schwarzen Angen,
das nnter verschiednen Kosenamen, wie der "kleine Teufel" oder der "Band-
judc," mit einem schwarzen, hölzernen Kasten, der an einem Riemen über dein
Rücken hing und einem weißen Stocke von Dorf zu Dorf zog, und der, ohne
still zu stehen, allen, denen er begegnete, freundlich grüßend zurief: "Der
Jakob ist wieder da, ihr guten Leute! Hier ist allerhand Band und Brüsseler
Spitzen für die kleine Liebste, hier ist Schnupftabak für die alte Tante, hier
ist Mandelkleie, Seife und wohlriechendes Wasser! Hier ist alles, was das
Herz begehrt an Brillen, Broschen, Nadeln, Federn, Scheren, Messern --."
Ehe er noch seine Aufzählung beendet hatte, war er schon wieder von dannen.
lind der Bauer, dein Jakob ein alter Bekannter war, ließ seinen Pflug ruhen
und blickte dem Kleinen lächelnd nach, der ans seinen dünnen Beinen am
Grabenrande entlang storchte.

Sobald im Orte verlautete, daß der Jude Jakob gekommen sei, fuhr es
- - so erzählt mau -- wie ein Fieber durch das ganze weibliche Geschlecht.
Selbst gesetzte Frauen, die ihr Hans für gewöhnlich in züchtiger Ehrbarkeit
hüteten, ließen Kochlöffel und Säugling fahren, um im Kruge oder in der
Schule oder wo er sonst seine Waaren auszukramen Pflegte, die Ersten zu
sein; ja alte Großmütter sah man an ihrem Stäbe die Straße hinabhumpelu,
eine leere Schnupftabaksdose oder irgend eiuen andern altmodischen silbernen
Gegenstand in der zitternden Hand. "Wo die San ist, da sanuncln sich
die Ferkel!" rief ihnen Jakob mit seiner lustigen Nabenstimme entgegen und
klatschte laut in die langen, sommersprossigen Hände, um den Handel zu
beginnen.

Aber man erzählte sich, daß in dem Juden Jakob mehr als eine Krämer¬
seele wohne. Wenn er so mitten unter all den Frnnenzimmern stand und


Grcuzlwtm IV 1889 7

Nur ein verletzendes Wort, ein Stoß mit dem Ellenbogen oder auch mir ein
kleiner Scherz mit dem Mädchen eines andern konnte plötzlich das ganze Lager
in Aufruhr versetzen. Und wenn dann der Kampf den Krug selber erreichte,
wurde die Verwirrung unbeschreiblich. Als lauerte« die Leidenschaften in
diesem unbändigen Schwarm nnr auf eine Gelegenheit, loszubrechen, konnte
sich im Handumdrehen ein wahrer Sturm von geballten Fäusten und drohenden
Stocken erheben, der sich mit Schreien und Flüchen bis an die Thür fortsetzte
und Unruhe und Verwirrung unter die sich bäumenden Pferde brachte. Da
flohen die Frauen mit Angstgeschrei und verbargen sich mit den Kindern nnter
den Wagen. Schwere schlüge fielen von den nervigen Fäusten der Juden,
während die gellenden Stimmen und die Knotenstöcke der Deutschen die Luft
durchdrängen.


>'!

Um diese Zeit, d. h. vor ungefähr zwanzig Jahren, lebte hier im Lande
ein kleines drolliges Männchen mit rotem, krausem Haar und schwarzen Angen,
das nnter verschiednen Kosenamen, wie der „kleine Teufel" oder der „Band-
judc," mit einem schwarzen, hölzernen Kasten, der an einem Riemen über dein
Rücken hing und einem weißen Stocke von Dorf zu Dorf zog, und der, ohne
still zu stehen, allen, denen er begegnete, freundlich grüßend zurief: „Der
Jakob ist wieder da, ihr guten Leute! Hier ist allerhand Band und Brüsseler
Spitzen für die kleine Liebste, hier ist Schnupftabak für die alte Tante, hier
ist Mandelkleie, Seife und wohlriechendes Wasser! Hier ist alles, was das
Herz begehrt an Brillen, Broschen, Nadeln, Federn, Scheren, Messern —."
Ehe er noch seine Aufzählung beendet hatte, war er schon wieder von dannen.
lind der Bauer, dein Jakob ein alter Bekannter war, ließ seinen Pflug ruhen
und blickte dem Kleinen lächelnd nach, der ans seinen dünnen Beinen am
Grabenrande entlang storchte.

Sobald im Orte verlautete, daß der Jude Jakob gekommen sei, fuhr es
- - so erzählt mau — wie ein Fieber durch das ganze weibliche Geschlecht.
Selbst gesetzte Frauen, die ihr Hans für gewöhnlich in züchtiger Ehrbarkeit
hüteten, ließen Kochlöffel und Säugling fahren, um im Kruge oder in der
Schule oder wo er sonst seine Waaren auszukramen Pflegte, die Ersten zu
sein; ja alte Großmütter sah man an ihrem Stäbe die Straße hinabhumpelu,
eine leere Schnupftabaksdose oder irgend eiuen andern altmodischen silbernen
Gegenstand in der zitternden Hand. „Wo die San ist, da sanuncln sich
die Ferkel!" rief ihnen Jakob mit seiner lustigen Nabenstimme entgegen und
klatschte laut in die langen, sommersprossigen Hände, um den Handel zu
beginnen.

Aber man erzählte sich, daß in dem Juden Jakob mehr als eine Krämer¬
seele wohne. Wenn er so mitten unter all den Frnnenzimmern stand und


Grcuzlwtm IV 1889 7
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/57>, abgerufen am 30.12.2024.