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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur
Über das Leben, Von Graf Leo Tolstoi, AMorisirte Übersetzung von Sophie Behr.
Leipzig, Duncker K Humblot, 1889

"Von uralten Zeiten her sind uns Betrachtungen über die Entstehung deS
Lebens bekannt, ob dieses einen unmateriellen Ursprung habe oder aus verschiednen
Zusammensetzungen der Materie entspringe. Und diese Betrachtungen dauern bis
heute fort, sodaß kein Ende derselben abzusehen ist, namentlich aus dem Grunde,
weil der Zweck aller Betrachtungen aus den Augen gelassen worden ist, und man
das Leben ohne Beziehung zu seinem Zwecke erforscht; und unter dem Worte
"Leben" versteht man nicht mehr das Leben selbst, sondern das, woraus es entsteht,
oder das was ihm eigen zu sein Pflegt." Das dürfte man als den Text Heraus¬
schälen, über den sich die Predigten dieses Buches verbreiten. Aber es ist doch
kein gewöhnliches Erbauungsbuch. Die seltsame Vvranssetzungslosigkeit, das un¬
gelenke Selbstvertrauen in der Behandlung der höchsten Probleme, gerade das ist
es, Was an ihm fesselt und rührt. Das "Testament Johnnnis" ist oft genng auf¬
gegriffen worden. Wem fiele nicht Lessings herrliches Gespräch ein! Aber der
Verfasser glaubt, daß er es zum erstenmal aufschlage, um damit die Leiden unsrer
Zeit zu heilen. Und das ist das eigentliche Geheimnis des litterarischen Erfolges.
Was aber noch schwerer wiegt, der Verfasser glaubt überdies an seinen Glauben;
nicht aus Profession, nicht aus Parteirücksichten, sondern ans schlichter, ehrlicher
Gläubigkeit. Und das ist wichtiger als der litterarische Erfolg, das ist ein ge¬
schichtliches Phänomen. In diesem Sinne lese man das Buch und lasse das auf
sich wirken, was darin als "Leben" in seinem Kerne hingestellt worden ist. Das
läßt sich begrifflich schwer fassen, und der Verfasser ist weit entfernt, in diesem
Betracht seine Ankündigung zu erfüllen. Aber es ist viel besser so, es ist wiederum
sein Vorzug. Philosophaster und Reformer haben wir genug, sie siud so weise
und immer "ganz neu" in ihren Ansichten. Dieser hier bewegt sich, ein uugelehrtes,
unbeholfenes Kind, unter "Pharisäern und Schriftgelehrten," und was er vorbringt,
ist gar nicht nen. Und doch klingt es so neu, während jene "Neuheiten" nachgerade so
trivial und abgestanden klingen. Denn in dieser Welt des Hasses giebt es zu allen
Zeiten nur eine neue Lehre, die Lehre von der Menschenliebe und von jener andern
Liebe, die nach einem ebenfalls gar nicht neuem Worte ,,stärker ist denn der Tod."


Zur Geschichte des Erhabenheitsbegriffes seit Knut. Von Arthur Seidl.
Leipzig, Friedrich, 1389

Es ist ganz gut, daß man anfängt, statt der sich schwerfällig dahinwälzenden
ästhetischen Kompendien handliche methodische Zusammenstellungen des Schicksals
der ästhetischen Begriffe und Ausdrücke anzufertigen. Es wäre nicht bloß in dieser
Wissenschaft wünschenswert. Die vorliegende fleißige Schrift wäre noch nutzbringender,
wenn sie kürzer wäre und sich mehr auf ihr Thema beschränkte. Der Verfasser
läßt sich schriftstellerisch gehen, liebt persönlichen und sachlichen Ein- und Ausfällen
zu folgen und stört dadurch die Wirkung der Methode, der er bei seiner Unter¬
suchung gefolgt ist. Auch manches überflüssige Bekannte hätte hier wegbleiben
können, z. B. die Angabe der Lebenszeit bekannter Philosophen.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur
Über das Leben, Von Graf Leo Tolstoi, AMorisirte Übersetzung von Sophie Behr.
Leipzig, Duncker K Humblot, 1889

„Von uralten Zeiten her sind uns Betrachtungen über die Entstehung deS
Lebens bekannt, ob dieses einen unmateriellen Ursprung habe oder aus verschiednen
Zusammensetzungen der Materie entspringe. Und diese Betrachtungen dauern bis
heute fort, sodaß kein Ende derselben abzusehen ist, namentlich aus dem Grunde,
weil der Zweck aller Betrachtungen aus den Augen gelassen worden ist, und man
das Leben ohne Beziehung zu seinem Zwecke erforscht; und unter dem Worte
„Leben" versteht man nicht mehr das Leben selbst, sondern das, woraus es entsteht,
oder das was ihm eigen zu sein Pflegt." Das dürfte man als den Text Heraus¬
schälen, über den sich die Predigten dieses Buches verbreiten. Aber es ist doch
kein gewöhnliches Erbauungsbuch. Die seltsame Vvranssetzungslosigkeit, das un¬
gelenke Selbstvertrauen in der Behandlung der höchsten Probleme, gerade das ist
es, Was an ihm fesselt und rührt. Das „Testament Johnnnis" ist oft genng auf¬
gegriffen worden. Wem fiele nicht Lessings herrliches Gespräch ein! Aber der
Verfasser glaubt, daß er es zum erstenmal aufschlage, um damit die Leiden unsrer
Zeit zu heilen. Und das ist das eigentliche Geheimnis des litterarischen Erfolges.
Was aber noch schwerer wiegt, der Verfasser glaubt überdies an seinen Glauben;
nicht aus Profession, nicht aus Parteirücksichten, sondern ans schlichter, ehrlicher
Gläubigkeit. Und das ist wichtiger als der litterarische Erfolg, das ist ein ge¬
schichtliches Phänomen. In diesem Sinne lese man das Buch und lasse das auf
sich wirken, was darin als „Leben" in seinem Kerne hingestellt worden ist. Das
läßt sich begrifflich schwer fassen, und der Verfasser ist weit entfernt, in diesem
Betracht seine Ankündigung zu erfüllen. Aber es ist viel besser so, es ist wiederum
sein Vorzug. Philosophaster und Reformer haben wir genug, sie siud so weise
und immer „ganz neu" in ihren Ansichten. Dieser hier bewegt sich, ein uugelehrtes,
unbeholfenes Kind, unter „Pharisäern und Schriftgelehrten," und was er vorbringt,
ist gar nicht nen. Und doch klingt es so neu, während jene „Neuheiten" nachgerade so
trivial und abgestanden klingen. Denn in dieser Welt des Hasses giebt es zu allen
Zeiten nur eine neue Lehre, die Lehre von der Menschenliebe und von jener andern
Liebe, die nach einem ebenfalls gar nicht neuem Worte ,,stärker ist denn der Tod."


Zur Geschichte des Erhabenheitsbegriffes seit Knut. Von Arthur Seidl.
Leipzig, Friedrich, 1389

Es ist ganz gut, daß man anfängt, statt der sich schwerfällig dahinwälzenden
ästhetischen Kompendien handliche methodische Zusammenstellungen des Schicksals
der ästhetischen Begriffe und Ausdrücke anzufertigen. Es wäre nicht bloß in dieser
Wissenschaft wünschenswert. Die vorliegende fleißige Schrift wäre noch nutzbringender,
wenn sie kürzer wäre und sich mehr auf ihr Thema beschränkte. Der Verfasser
läßt sich schriftstellerisch gehen, liebt persönlichen und sachlichen Ein- und Ausfällen
zu folgen und stört dadurch die Wirkung der Methode, der er bei seiner Unter¬
suchung gefolgt ist. Auch manches überflüssige Bekannte hätte hier wegbleiben
können, z. B. die Angabe der Lebenszeit bekannter Philosophen.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0304] Litteratur Über das Leben, Von Graf Leo Tolstoi, AMorisirte Übersetzung von Sophie Behr. Leipzig, Duncker K Humblot, 1889 „Von uralten Zeiten her sind uns Betrachtungen über die Entstehung deS Lebens bekannt, ob dieses einen unmateriellen Ursprung habe oder aus verschiednen Zusammensetzungen der Materie entspringe. Und diese Betrachtungen dauern bis heute fort, sodaß kein Ende derselben abzusehen ist, namentlich aus dem Grunde, weil der Zweck aller Betrachtungen aus den Augen gelassen worden ist, und man das Leben ohne Beziehung zu seinem Zwecke erforscht; und unter dem Worte „Leben" versteht man nicht mehr das Leben selbst, sondern das, woraus es entsteht, oder das was ihm eigen zu sein Pflegt." Das dürfte man als den Text Heraus¬ schälen, über den sich die Predigten dieses Buches verbreiten. Aber es ist doch kein gewöhnliches Erbauungsbuch. Die seltsame Vvranssetzungslosigkeit, das un¬ gelenke Selbstvertrauen in der Behandlung der höchsten Probleme, gerade das ist es, Was an ihm fesselt und rührt. Das „Testament Johnnnis" ist oft genng auf¬ gegriffen worden. Wem fiele nicht Lessings herrliches Gespräch ein! Aber der Verfasser glaubt, daß er es zum erstenmal aufschlage, um damit die Leiden unsrer Zeit zu heilen. Und das ist das eigentliche Geheimnis des litterarischen Erfolges. Was aber noch schwerer wiegt, der Verfasser glaubt überdies an seinen Glauben; nicht aus Profession, nicht aus Parteirücksichten, sondern ans schlichter, ehrlicher Gläubigkeit. Und das ist wichtiger als der litterarische Erfolg, das ist ein ge¬ schichtliches Phänomen. In diesem Sinne lese man das Buch und lasse das auf sich wirken, was darin als „Leben" in seinem Kerne hingestellt worden ist. Das läßt sich begrifflich schwer fassen, und der Verfasser ist weit entfernt, in diesem Betracht seine Ankündigung zu erfüllen. Aber es ist viel besser so, es ist wiederum sein Vorzug. Philosophaster und Reformer haben wir genug, sie siud so weise und immer „ganz neu" in ihren Ansichten. Dieser hier bewegt sich, ein uugelehrtes, unbeholfenes Kind, unter „Pharisäern und Schriftgelehrten," und was er vorbringt, ist gar nicht nen. Und doch klingt es so neu, während jene „Neuheiten" nachgerade so trivial und abgestanden klingen. Denn in dieser Welt des Hasses giebt es zu allen Zeiten nur eine neue Lehre, die Lehre von der Menschenliebe und von jener andern Liebe, die nach einem ebenfalls gar nicht neuem Worte ,,stärker ist denn der Tod." Zur Geschichte des Erhabenheitsbegriffes seit Knut. Von Arthur Seidl. Leipzig, Friedrich, 1389 Es ist ganz gut, daß man anfängt, statt der sich schwerfällig dahinwälzenden ästhetischen Kompendien handliche methodische Zusammenstellungen des Schicksals der ästhetischen Begriffe und Ausdrücke anzufertigen. Es wäre nicht bloß in dieser Wissenschaft wünschenswert. Die vorliegende fleißige Schrift wäre noch nutzbringender, wenn sie kürzer wäre und sich mehr auf ihr Thema beschränkte. Der Verfasser läßt sich schriftstellerisch gehen, liebt persönlichen und sachlichen Ein- und Ausfällen zu folgen und stört dadurch die Wirkung der Methode, der er bei seiner Unter¬ suchung gefolgt ist. Auch manches überflüssige Bekannte hätte hier wegbleiben können, z. B. die Angabe der Lebenszeit bekannter Philosophen. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/304>, abgerufen am 21.12.2024.