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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Junge Liebe

die Farben ihrer Bilder nicht mit einem weißlichen Schleier wie Lipps auf
seinen Darstellungen aus Verona, darum ist ihr Licht und ihre Farbe wahr,
eures nicht. Zerreißt diesen Schleier, d. h. nehmt euch die plein air-Brille ab, und
ihr werdet erkennen, wie sehr ihr in Manier befangen wart. Vor allem aber
erinnert euch, daß die Kunst nicht bloße Nachahmung der Natur ist, daß der
Künstler die Natur in sich aufnehmen und von seinem Wesen durchdrungen
wieder aus sich heraus gebären muß, daß das Kunstwerk vervollkommnete
Natur ist.




Junge Liebe
Henrik pontoppidan Idyll von
Ans dem Dänischen übersetzt von Mathilde Mann
(Fortsetzung)
^

esper hatte also sein beharrlich erstrebtes Ziel erreicht: er war
Marthas Verlobter geworden. Aber er war es noch nicht
lange, als er auch schon bemerkte, daß er dadurch eigentlich
nicht viel weiter gekommen war. Natürlich wurden ihm gewisse
Freiheiten zugestanden, die Verlobte einander niemals gut ver¬
weigern können, aber immer betrachtete sie ihn mit derselben kühlen Ruhe,
derselben unbeweglichen Gleichgiltigkeit, als Ware er eine fremde Person, die
sie im übrigen nichts weiter anginge. Wenn er im Zimmer zwischen den
andern saß, so blickte sie über seinen Kopf hinweg, als wäre er gar uicht da.
Er mochte kommen oder gehen, so schien das keinen Gedanken in ihrem Kopfe
zu verändern.

Oft fragte er sich selber, ob vielleicht etwas dahinterstecke, ob ihm viel¬
leicht ein andrer den Rang streitig mache. Mißtrauisch beobachtete er jeden
ihrer Schritte. Er überraschte sie zu jeder Tageszeit, und dann konnte er da¬
sitzen und ihr in die Augen starren, als wollte er ihr mit aller Gewalt ein
Geheimnis entreißen. Er fühlte, daß er den, der sie ihm etwa abspenstig
machen würde, kalten Blutes umbringen könnte. Und selbst wenn er nichts
Verdächtiges vorfand, konnte ihn bei dein bloßen Anblick ihrer Ruhe eine so


Junge Liebe

die Farben ihrer Bilder nicht mit einem weißlichen Schleier wie Lipps auf
seinen Darstellungen aus Verona, darum ist ihr Licht und ihre Farbe wahr,
eures nicht. Zerreißt diesen Schleier, d. h. nehmt euch die plein air-Brille ab, und
ihr werdet erkennen, wie sehr ihr in Manier befangen wart. Vor allem aber
erinnert euch, daß die Kunst nicht bloße Nachahmung der Natur ist, daß der
Künstler die Natur in sich aufnehmen und von seinem Wesen durchdrungen
wieder aus sich heraus gebären muß, daß das Kunstwerk vervollkommnete
Natur ist.




Junge Liebe
Henrik pontoppidan Idyll von
Ans dem Dänischen übersetzt von Mathilde Mann
(Fortsetzung)
^

esper hatte also sein beharrlich erstrebtes Ziel erreicht: er war
Marthas Verlobter geworden. Aber er war es noch nicht
lange, als er auch schon bemerkte, daß er dadurch eigentlich
nicht viel weiter gekommen war. Natürlich wurden ihm gewisse
Freiheiten zugestanden, die Verlobte einander niemals gut ver¬
weigern können, aber immer betrachtete sie ihn mit derselben kühlen Ruhe,
derselben unbeweglichen Gleichgiltigkeit, als Ware er eine fremde Person, die
sie im übrigen nichts weiter anginge. Wenn er im Zimmer zwischen den
andern saß, so blickte sie über seinen Kopf hinweg, als wäre er gar uicht da.
Er mochte kommen oder gehen, so schien das keinen Gedanken in ihrem Kopfe
zu verändern.

Oft fragte er sich selber, ob vielleicht etwas dahinterstecke, ob ihm viel¬
leicht ein andrer den Rang streitig mache. Mißtrauisch beobachtete er jeden
ihrer Schritte. Er überraschte sie zu jeder Tageszeit, und dann konnte er da¬
sitzen und ihr in die Augen starren, als wollte er ihr mit aller Gewalt ein
Geheimnis entreißen. Er fühlte, daß er den, der sie ihm etwa abspenstig
machen würde, kalten Blutes umbringen könnte. Und selbst wenn er nichts
Verdächtiges vorfand, konnte ihn bei dein bloßen Anblick ihrer Ruhe eine so


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[0295] Junge Liebe die Farben ihrer Bilder nicht mit einem weißlichen Schleier wie Lipps auf seinen Darstellungen aus Verona, darum ist ihr Licht und ihre Farbe wahr, eures nicht. Zerreißt diesen Schleier, d. h. nehmt euch die plein air-Brille ab, und ihr werdet erkennen, wie sehr ihr in Manier befangen wart. Vor allem aber erinnert euch, daß die Kunst nicht bloße Nachahmung der Natur ist, daß der Künstler die Natur in sich aufnehmen und von seinem Wesen durchdrungen wieder aus sich heraus gebären muß, daß das Kunstwerk vervollkommnete Natur ist. Junge Liebe Henrik pontoppidan Idyll von Ans dem Dänischen übersetzt von Mathilde Mann (Fortsetzung) ^ esper hatte also sein beharrlich erstrebtes Ziel erreicht: er war Marthas Verlobter geworden. Aber er war es noch nicht lange, als er auch schon bemerkte, daß er dadurch eigentlich nicht viel weiter gekommen war. Natürlich wurden ihm gewisse Freiheiten zugestanden, die Verlobte einander niemals gut ver¬ weigern können, aber immer betrachtete sie ihn mit derselben kühlen Ruhe, derselben unbeweglichen Gleichgiltigkeit, als Ware er eine fremde Person, die sie im übrigen nichts weiter anginge. Wenn er im Zimmer zwischen den andern saß, so blickte sie über seinen Kopf hinweg, als wäre er gar uicht da. Er mochte kommen oder gehen, so schien das keinen Gedanken in ihrem Kopfe zu verändern. Oft fragte er sich selber, ob vielleicht etwas dahinterstecke, ob ihm viel¬ leicht ein andrer den Rang streitig mache. Mißtrauisch beobachtete er jeden ihrer Schritte. Er überraschte sie zu jeder Tageszeit, und dann konnte er da¬ sitzen und ihr in die Augen starren, als wollte er ihr mit aller Gewalt ein Geheimnis entreißen. Er fühlte, daß er den, der sie ihm etwa abspenstig machen würde, kalten Blutes umbringen könnte. Und selbst wenn er nichts Verdächtiges vorfand, konnte ihn bei dein bloßen Anblick ihrer Ruhe eine so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/295>, abgerufen am 23.06.2024.