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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Junge Liebe

Mnrtha schob den Riegel vor die Thür, durch die sie gekommen war,
schloß sorgfältig die Fensterladen und zündete das Licht an, das auf dem Tische
stand. Dann trat sie aus Bett und zog eiuen Kasten mit verschiednen Ge-
riimpel darunter hervor. Auf dem Boden des Kastens entdeckte sie lächelnd
ein Päckchen roter Hefte, deren Umschlag sie erst umständlich mit ihrer Schürze
vom Stande befreite, worauf sie sich an den Tisch setzte und -- langsam und
nachdrücklich -- darin zu blättern anfing. Endlich fesselte sie eine Stelle; sie
strich das Haar aus der Stirn, rückte das Licht dicht an sich heran, und noch
lauge, unchdem sie die Alten hatte über die Diele taumeln hören, saß sie bei
dein herabgebrannten Talglichte eifrig vertieft in "Die geheimnisvolle Thür
oder Ritter Roberts Liebesabenteuer."

6

Seit jenem Tage lebte Martha eigentlich nicht mehr in dein alten Fähr¬
kruge zu Balderöd.

Der eine zitternde Blick zweier Liebenden, die plötzliche Offenbarung einer
neuen, übersinnlichen Welt des Glückes hatten ihr auf einmal die Flügelthüren
geöffnet zu jenen goldnen, unbekannten Landen, zu der strahlenden Fata Morgana
des Menschenlebens, in die sie sich jetzt mit allen ihren Gedanken vertiefte.

Ihr Sehnen erhielt von neuem ein andres Ziel. Mit der feurigen Phan¬
tasie der erwachenden Leidenschaft versenkte sie ihre Seele in diese wundervolle
Welt voller Seligkeit und Liebesglück und gab sich einem Traumleben hin, das
ihre Tage ausfüllte und dessen Wiederschein in ihrem Lächeln lag und aus
der geheimnisvollen Tiefe ihrer Augen blickte.

Wenn sie in den Wald ging und dort gerade die dunkelsten Wege auf¬
suchte, die sich im Dickicht verloren, gleich schuf sie sich das Bild eines ritter¬
lichen Burschen, der neben ihr den Pfad entlang schritt. Ein Blatt, das ihre
Wange streifte, ward zum Kuß, der sie erzittern machte. Ein Zweig, der ihren
Rock festhielt, war eine freche Hand, die nach ihr haschte. Knackte aber ein
Zweig in ihrer Nähe, so konnte sie ein solcher Schreck befallen, daß sie sich
allen Ernstes unter den Büschen verbarg.

Wenn sie dagegen zu Hause in ihrer Kammer am Fenster saß und durch
die Kluft auf das Küstenland schaute, so faud sie stets irgend einen kleinen
Punkt, auf den sich alle ihre Träume mit Vorliebe richteten; und immer war
ein gewisses Etwas dabei mit einem großen, blonden Bart und einem feinen,
roten, zartküssenden Munde. Da lag ein kleines, weißes Haus am Fuße eines
rundlichen, mit wilden Rosen bewachsenen Hügels. Im Volksmunde hieß es
das "Mühlenhaus." Dorthin träumte sie sich besonders gern unter Goldregen
und Rosen, bald in stillen Mondnächten, bald in warmen Sommerabenden mit
Lerchenschlag und Blumenduft. Und wenn dann der letzte Schimmer über der
Erde verschwand und die goldnen Wolke" des Sonnenunterganges sich über


Junge Liebe

Mnrtha schob den Riegel vor die Thür, durch die sie gekommen war,
schloß sorgfältig die Fensterladen und zündete das Licht an, das auf dem Tische
stand. Dann trat sie aus Bett und zog eiuen Kasten mit verschiednen Ge-
riimpel darunter hervor. Auf dem Boden des Kastens entdeckte sie lächelnd
ein Päckchen roter Hefte, deren Umschlag sie erst umständlich mit ihrer Schürze
vom Stande befreite, worauf sie sich an den Tisch setzte und — langsam und
nachdrücklich — darin zu blättern anfing. Endlich fesselte sie eine Stelle; sie
strich das Haar aus der Stirn, rückte das Licht dicht an sich heran, und noch
lauge, unchdem sie die Alten hatte über die Diele taumeln hören, saß sie bei
dein herabgebrannten Talglichte eifrig vertieft in „Die geheimnisvolle Thür
oder Ritter Roberts Liebesabenteuer."

6

Seit jenem Tage lebte Martha eigentlich nicht mehr in dein alten Fähr¬
kruge zu Balderöd.

Der eine zitternde Blick zweier Liebenden, die plötzliche Offenbarung einer
neuen, übersinnlichen Welt des Glückes hatten ihr auf einmal die Flügelthüren
geöffnet zu jenen goldnen, unbekannten Landen, zu der strahlenden Fata Morgana
des Menschenlebens, in die sie sich jetzt mit allen ihren Gedanken vertiefte.

Ihr Sehnen erhielt von neuem ein andres Ziel. Mit der feurigen Phan¬
tasie der erwachenden Leidenschaft versenkte sie ihre Seele in diese wundervolle
Welt voller Seligkeit und Liebesglück und gab sich einem Traumleben hin, das
ihre Tage ausfüllte und dessen Wiederschein in ihrem Lächeln lag und aus
der geheimnisvollen Tiefe ihrer Augen blickte.

Wenn sie in den Wald ging und dort gerade die dunkelsten Wege auf¬
suchte, die sich im Dickicht verloren, gleich schuf sie sich das Bild eines ritter¬
lichen Burschen, der neben ihr den Pfad entlang schritt. Ein Blatt, das ihre
Wange streifte, ward zum Kuß, der sie erzittern machte. Ein Zweig, der ihren
Rock festhielt, war eine freche Hand, die nach ihr haschte. Knackte aber ein
Zweig in ihrer Nähe, so konnte sie ein solcher Schreck befallen, daß sie sich
allen Ernstes unter den Büschen verbarg.

Wenn sie dagegen zu Hause in ihrer Kammer am Fenster saß und durch
die Kluft auf das Küstenland schaute, so faud sie stets irgend einen kleinen
Punkt, auf den sich alle ihre Träume mit Vorliebe richteten; und immer war
ein gewisses Etwas dabei mit einem großen, blonden Bart und einem feinen,
roten, zartküssenden Munde. Da lag ein kleines, weißes Haus am Fuße eines
rundlichen, mit wilden Rosen bewachsenen Hügels. Im Volksmunde hieß es
das „Mühlenhaus." Dorthin träumte sie sich besonders gern unter Goldregen
und Rosen, bald in stillen Mondnächten, bald in warmen Sommerabenden mit
Lerchenschlag und Blumenduft. Und wenn dann der letzte Schimmer über der
Erde verschwand und die goldnen Wolke» des Sonnenunterganges sich über


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[0246] Junge Liebe Mnrtha schob den Riegel vor die Thür, durch die sie gekommen war, schloß sorgfältig die Fensterladen und zündete das Licht an, das auf dem Tische stand. Dann trat sie aus Bett und zog eiuen Kasten mit verschiednen Ge- riimpel darunter hervor. Auf dem Boden des Kastens entdeckte sie lächelnd ein Päckchen roter Hefte, deren Umschlag sie erst umständlich mit ihrer Schürze vom Stande befreite, worauf sie sich an den Tisch setzte und — langsam und nachdrücklich — darin zu blättern anfing. Endlich fesselte sie eine Stelle; sie strich das Haar aus der Stirn, rückte das Licht dicht an sich heran, und noch lauge, unchdem sie die Alten hatte über die Diele taumeln hören, saß sie bei dein herabgebrannten Talglichte eifrig vertieft in „Die geheimnisvolle Thür oder Ritter Roberts Liebesabenteuer." 6 Seit jenem Tage lebte Martha eigentlich nicht mehr in dein alten Fähr¬ kruge zu Balderöd. Der eine zitternde Blick zweier Liebenden, die plötzliche Offenbarung einer neuen, übersinnlichen Welt des Glückes hatten ihr auf einmal die Flügelthüren geöffnet zu jenen goldnen, unbekannten Landen, zu der strahlenden Fata Morgana des Menschenlebens, in die sie sich jetzt mit allen ihren Gedanken vertiefte. Ihr Sehnen erhielt von neuem ein andres Ziel. Mit der feurigen Phan¬ tasie der erwachenden Leidenschaft versenkte sie ihre Seele in diese wundervolle Welt voller Seligkeit und Liebesglück und gab sich einem Traumleben hin, das ihre Tage ausfüllte und dessen Wiederschein in ihrem Lächeln lag und aus der geheimnisvollen Tiefe ihrer Augen blickte. Wenn sie in den Wald ging und dort gerade die dunkelsten Wege auf¬ suchte, die sich im Dickicht verloren, gleich schuf sie sich das Bild eines ritter¬ lichen Burschen, der neben ihr den Pfad entlang schritt. Ein Blatt, das ihre Wange streifte, ward zum Kuß, der sie erzittern machte. Ein Zweig, der ihren Rock festhielt, war eine freche Hand, die nach ihr haschte. Knackte aber ein Zweig in ihrer Nähe, so konnte sie ein solcher Schreck befallen, daß sie sich allen Ernstes unter den Büschen verbarg. Wenn sie dagegen zu Hause in ihrer Kammer am Fenster saß und durch die Kluft auf das Küstenland schaute, so faud sie stets irgend einen kleinen Punkt, auf den sich alle ihre Träume mit Vorliebe richteten; und immer war ein gewisses Etwas dabei mit einem großen, blonden Bart und einem feinen, roten, zartküssenden Munde. Da lag ein kleines, weißes Haus am Fuße eines rundlichen, mit wilden Rosen bewachsenen Hügels. Im Volksmunde hieß es das „Mühlenhaus." Dorthin träumte sie sich besonders gern unter Goldregen und Rosen, bald in stillen Mondnächten, bald in warmen Sommerabenden mit Lerchenschlag und Blumenduft. Und wenn dann der letzte Schimmer über der Erde verschwand und die goldnen Wolke» des Sonnenunterganges sich über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/246>, abgerufen am 23.06.2024.