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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die Iustizorganisation von ^3?9 in ministerieller Beleuchtung

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Was der Bericht über den Wert der mündlichen Verhandlung sagt, ist
vollkommen richtig, ist aber auch von niemand bestritten worden. Ebenso kann
man ja zugeben, daß die "elastischen Formen" des Verfahrens mitunter der
Gerechtigkeit zu gute kommen, während sie anderseits auch von Richtern und
Anwälten mißbraucht werden können. Alle diese Dinge sind aber gar nicht
in Frage. Die Frage ist vielmehr die: Welche Garantie ist dafür gegeben,
daß das Gericht nicht bloß nuf das, was es mündlich gehört zu haben glaubt,
seine Entscheidung giebt? Daß das Urteil einer Grundlage bedürfe, die es in
höherm Maße sichere, als die bloße mündliche Verhandlung, das erkennt auch
der Bericht mit sehr entschiednen Worten an. Er sagt, wenn eine solche
sichernde Grundlage fehlte, so müsse "so bald wie möglich eine fundamentale
Änderung des Gesetzes in Angriff genommen werden." Der Bericht findet
nun aber diese sichernde Grundlage darin, daß vorher Schriften gewechselt
würden, daß das Gericht die Pflicht habe, nach diesen Schriften die miindliche
Verhandlung zu kvutrvlireu, und daß darnach das Gericht in der Lage sei, die
Ergebnisse der mündlichen Verhandlung sicher festzustellen.

Diese Aufstellung leidet nur an dem Fehler, daß die angenommene sichernde
Grundlage des Urteils jeder Bürgschaft ihres Vorhnudeuseins entbehrt.

Erstens: Nichts verbürgt, daß die Schriften wirklich vorhanden sind, da
es von dem Belieben der Parteien abhängt, ob sie solche erstatten "vollen.
Thatsache ist, daß vielfach ohne Schriften oder mit ganz ungenügenden Schriften
in die Verhandlung hineingegangen wird.

Zweitens: Nirgends im Gesetz ist gesagt, daß es "Pflicht des Gerichtes"
sei, die Schriften zu lesen und darnach die mündliche Verhandlung zu kvutrolireu.
Das Gesetz weist deu Richter nur an, auf Grund der "mündlichen Verhand¬
lung" zu entscheiden. Jetzt zum erstenmale spricht ein amtliches Aktenstück
davon, daß es "Pflicht des Gerichtes" sei, die Schriften zu lesen. Kein Richter
aber verletzt die ihm durch das Gesetz auferlegte Pflicht, wenn er sich um die
Schriften gar nicht kümmert. Thatsache ist, daß bei vielen Gerichten die
Schriften vor der Verhandlung gar nicht gelesen werden, womit das Kvu¬
trvlireu von selbst hinfällig wird.

Drittens: Selbst wenn das Gesetz eine solche Pflicht des Gerichtes aus¬
gesprochen hatte, würde doch dieser Ausspruch so lange haltlos sein, als es
für die Erfüllung der Pflicht an jeder Kontrole fehlt. Diese könnte nur darin
bestehen, daß das Gericht verpflichtet wäre, die Übereinstimmung der mündlichen
Verhandlung mit den Schriften oder Abweichungen derselben von diesen sofort
festzustellen. Das schreibt aber das Gesetz nicht vor. Vielmehr stellt das
Gericht das, was es übereinstimmend oder abweichend von den Schriften gehört
zu haben glaubt, erst nachträglich, uach Tagen, Wochen oder Monaten, hinter
dem Rücken der Parteien dnrch eine in das Urteil aufgenommene Geschichts-


Die Iustizorganisation von ^3?9 in ministerieller Beleuchtung

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Was der Bericht über den Wert der mündlichen Verhandlung sagt, ist
vollkommen richtig, ist aber auch von niemand bestritten worden. Ebenso kann
man ja zugeben, daß die „elastischen Formen" des Verfahrens mitunter der
Gerechtigkeit zu gute kommen, während sie anderseits auch von Richtern und
Anwälten mißbraucht werden können. Alle diese Dinge sind aber gar nicht
in Frage. Die Frage ist vielmehr die: Welche Garantie ist dafür gegeben,
daß das Gericht nicht bloß nuf das, was es mündlich gehört zu haben glaubt,
seine Entscheidung giebt? Daß das Urteil einer Grundlage bedürfe, die es in
höherm Maße sichere, als die bloße mündliche Verhandlung, das erkennt auch
der Bericht mit sehr entschiednen Worten an. Er sagt, wenn eine solche
sichernde Grundlage fehlte, so müsse „so bald wie möglich eine fundamentale
Änderung des Gesetzes in Angriff genommen werden." Der Bericht findet
nun aber diese sichernde Grundlage darin, daß vorher Schriften gewechselt
würden, daß das Gericht die Pflicht habe, nach diesen Schriften die miindliche
Verhandlung zu kvutrvlireu, und daß darnach das Gericht in der Lage sei, die
Ergebnisse der mündlichen Verhandlung sicher festzustellen.

Diese Aufstellung leidet nur an dem Fehler, daß die angenommene sichernde
Grundlage des Urteils jeder Bürgschaft ihres Vorhnudeuseins entbehrt.

Erstens: Nichts verbürgt, daß die Schriften wirklich vorhanden sind, da
es von dem Belieben der Parteien abhängt, ob sie solche erstatten »vollen.
Thatsache ist, daß vielfach ohne Schriften oder mit ganz ungenügenden Schriften
in die Verhandlung hineingegangen wird.

Zweitens: Nirgends im Gesetz ist gesagt, daß es „Pflicht des Gerichtes"
sei, die Schriften zu lesen und darnach die mündliche Verhandlung zu kvutrolireu.
Das Gesetz weist deu Richter nur an, auf Grund der „mündlichen Verhand¬
lung" zu entscheiden. Jetzt zum erstenmale spricht ein amtliches Aktenstück
davon, daß es „Pflicht des Gerichtes" sei, die Schriften zu lesen. Kein Richter
aber verletzt die ihm durch das Gesetz auferlegte Pflicht, wenn er sich um die
Schriften gar nicht kümmert. Thatsache ist, daß bei vielen Gerichten die
Schriften vor der Verhandlung gar nicht gelesen werden, womit das Kvu¬
trvlireu von selbst hinfällig wird.

Drittens: Selbst wenn das Gesetz eine solche Pflicht des Gerichtes aus¬
gesprochen hatte, würde doch dieser Ausspruch so lange haltlos sein, als es
für die Erfüllung der Pflicht an jeder Kontrole fehlt. Diese könnte nur darin
bestehen, daß das Gericht verpflichtet wäre, die Übereinstimmung der mündlichen
Verhandlung mit den Schriften oder Abweichungen derselben von diesen sofort
festzustellen. Das schreibt aber das Gesetz nicht vor. Vielmehr stellt das
Gericht das, was es übereinstimmend oder abweichend von den Schriften gehört
zu haben glaubt, erst nachträglich, uach Tagen, Wochen oder Monaten, hinter
dem Rücken der Parteien dnrch eine in das Urteil aufgenommene Geschichts-


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[0130] Die Iustizorganisation von ^3?9 in ministerieller Beleuchtung 6 Was der Bericht über den Wert der mündlichen Verhandlung sagt, ist vollkommen richtig, ist aber auch von niemand bestritten worden. Ebenso kann man ja zugeben, daß die „elastischen Formen" des Verfahrens mitunter der Gerechtigkeit zu gute kommen, während sie anderseits auch von Richtern und Anwälten mißbraucht werden können. Alle diese Dinge sind aber gar nicht in Frage. Die Frage ist vielmehr die: Welche Garantie ist dafür gegeben, daß das Gericht nicht bloß nuf das, was es mündlich gehört zu haben glaubt, seine Entscheidung giebt? Daß das Urteil einer Grundlage bedürfe, die es in höherm Maße sichere, als die bloße mündliche Verhandlung, das erkennt auch der Bericht mit sehr entschiednen Worten an. Er sagt, wenn eine solche sichernde Grundlage fehlte, so müsse „so bald wie möglich eine fundamentale Änderung des Gesetzes in Angriff genommen werden." Der Bericht findet nun aber diese sichernde Grundlage darin, daß vorher Schriften gewechselt würden, daß das Gericht die Pflicht habe, nach diesen Schriften die miindliche Verhandlung zu kvutrvlireu, und daß darnach das Gericht in der Lage sei, die Ergebnisse der mündlichen Verhandlung sicher festzustellen. Diese Aufstellung leidet nur an dem Fehler, daß die angenommene sichernde Grundlage des Urteils jeder Bürgschaft ihres Vorhnudeuseins entbehrt. Erstens: Nichts verbürgt, daß die Schriften wirklich vorhanden sind, da es von dem Belieben der Parteien abhängt, ob sie solche erstatten »vollen. Thatsache ist, daß vielfach ohne Schriften oder mit ganz ungenügenden Schriften in die Verhandlung hineingegangen wird. Zweitens: Nirgends im Gesetz ist gesagt, daß es „Pflicht des Gerichtes" sei, die Schriften zu lesen und darnach die mündliche Verhandlung zu kvutrolireu. Das Gesetz weist deu Richter nur an, auf Grund der „mündlichen Verhand¬ lung" zu entscheiden. Jetzt zum erstenmale spricht ein amtliches Aktenstück davon, daß es „Pflicht des Gerichtes" sei, die Schriften zu lesen. Kein Richter aber verletzt die ihm durch das Gesetz auferlegte Pflicht, wenn er sich um die Schriften gar nicht kümmert. Thatsache ist, daß bei vielen Gerichten die Schriften vor der Verhandlung gar nicht gelesen werden, womit das Kvu¬ trvlireu von selbst hinfällig wird. Drittens: Selbst wenn das Gesetz eine solche Pflicht des Gerichtes aus¬ gesprochen hatte, würde doch dieser Ausspruch so lange haltlos sein, als es für die Erfüllung der Pflicht an jeder Kontrole fehlt. Diese könnte nur darin bestehen, daß das Gericht verpflichtet wäre, die Übereinstimmung der mündlichen Verhandlung mit den Schriften oder Abweichungen derselben von diesen sofort festzustellen. Das schreibt aber das Gesetz nicht vor. Vielmehr stellt das Gericht das, was es übereinstimmend oder abweichend von den Schriften gehört zu haben glaubt, erst nachträglich, uach Tagen, Wochen oder Monaten, hinter dem Rücken der Parteien dnrch eine in das Urteil aufgenommene Geschichts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/130>, abgerufen am 23.06.2024.