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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Freiheit
von Karl Ientsch

is E. von Hartmann vor etwa zwölf Jahren in der "Gegen¬
wart" nachzuweisen versuchte, wie bei fortschreitender Kultur die
Freiheit mehr und mehr eingeengt werde, da mag die ver¬
schwiegene kleine Gemeinde, deren Glaubensbekenntnis er verriet,
ein wenig erschrocken sein. In der Öffentlichkeit schwört außer
jenem kecken Pessimisten alle Welt darauf, daß der Kulturfortschritt selbstver¬
ständlich auch den Fortschritt der Freiheit einschließe. Die Liberalen trösten
sich über jene Erscheinungen, die sie als Reaktion beklagen, mit der Hoffnung,
der Rückfall werde rasch vorübergehen; die Konservativen hingegen erklären die
angebliche Reaktion für leere Einbildung und finden die Sache der Freiheit
aufs schönste bestellt. Des Rätsels Lösung wird denen nicht schwer, die mit
Ranke zu der Ansicht gelangt sind, daß der Kulturfortschritt sich auf die
Steigerung des Reichtums an materiellen Gütern, auf die Vermehrung der
Erkenntnismasse und die Vervollkommnung, der Technik beschränkt, während in
Bezug auf die übrigen idealen Güter der Besitzstand durch alle Zeiten hindurch
so ziemlich gleich groß bleibt. Nach dieser Ansicht sind die Gesellschaftsformen
zwar in beständiger Umbildung begriffen, weisen aber in jeder Periode sowohl
Fortschritte als Rückschritte auf, sodaß der Beschauer, je nach Temperament
und Vorurteil, ebenso leicht den stetigen Fortschritt wie den stetigen Rückschritt
wahrnehmen, das goldne Zeitalter an den Anfang oder ans Ende der Welt¬
geschichte hinträumen kann. Freiheit und Unfreiheit bedeuten in der Menschen-
Welt ungefähr dasselbe, wie in der organischen Natur die chemische Bindung
und Lösung der Elemente. Indem die Pflanzen- und Tierleiber teils im


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Grenzboten II 1889 49


Freiheit
von Karl Ientsch

is E. von Hartmann vor etwa zwölf Jahren in der „Gegen¬
wart" nachzuweisen versuchte, wie bei fortschreitender Kultur die
Freiheit mehr und mehr eingeengt werde, da mag die ver¬
schwiegene kleine Gemeinde, deren Glaubensbekenntnis er verriet,
ein wenig erschrocken sein. In der Öffentlichkeit schwört außer
jenem kecken Pessimisten alle Welt darauf, daß der Kulturfortschritt selbstver¬
ständlich auch den Fortschritt der Freiheit einschließe. Die Liberalen trösten
sich über jene Erscheinungen, die sie als Reaktion beklagen, mit der Hoffnung,
der Rückfall werde rasch vorübergehen; die Konservativen hingegen erklären die
angebliche Reaktion für leere Einbildung und finden die Sache der Freiheit
aufs schönste bestellt. Des Rätsels Lösung wird denen nicht schwer, die mit
Ranke zu der Ansicht gelangt sind, daß der Kulturfortschritt sich auf die
Steigerung des Reichtums an materiellen Gütern, auf die Vermehrung der
Erkenntnismasse und die Vervollkommnung, der Technik beschränkt, während in
Bezug auf die übrigen idealen Güter der Besitzstand durch alle Zeiten hindurch
so ziemlich gleich groß bleibt. Nach dieser Ansicht sind die Gesellschaftsformen
zwar in beständiger Umbildung begriffen, weisen aber in jeder Periode sowohl
Fortschritte als Rückschritte auf, sodaß der Beschauer, je nach Temperament
und Vorurteil, ebenso leicht den stetigen Fortschritt wie den stetigen Rückschritt
wahrnehmen, das goldne Zeitalter an den Anfang oder ans Ende der Welt¬
geschichte hinträumen kann. Freiheit und Unfreiheit bedeuten in der Menschen-
Welt ungefähr dasselbe, wie in der organischen Natur die chemische Bindung
und Lösung der Elemente. Indem die Pflanzen- und Tierleiber teils im


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[0393] [Abbildung] Freiheit von Karl Ientsch is E. von Hartmann vor etwa zwölf Jahren in der „Gegen¬ wart" nachzuweisen versuchte, wie bei fortschreitender Kultur die Freiheit mehr und mehr eingeengt werde, da mag die ver¬ schwiegene kleine Gemeinde, deren Glaubensbekenntnis er verriet, ein wenig erschrocken sein. In der Öffentlichkeit schwört außer jenem kecken Pessimisten alle Welt darauf, daß der Kulturfortschritt selbstver¬ ständlich auch den Fortschritt der Freiheit einschließe. Die Liberalen trösten sich über jene Erscheinungen, die sie als Reaktion beklagen, mit der Hoffnung, der Rückfall werde rasch vorübergehen; die Konservativen hingegen erklären die angebliche Reaktion für leere Einbildung und finden die Sache der Freiheit aufs schönste bestellt. Des Rätsels Lösung wird denen nicht schwer, die mit Ranke zu der Ansicht gelangt sind, daß der Kulturfortschritt sich auf die Steigerung des Reichtums an materiellen Gütern, auf die Vermehrung der Erkenntnismasse und die Vervollkommnung, der Technik beschränkt, während in Bezug auf die übrigen idealen Güter der Besitzstand durch alle Zeiten hindurch so ziemlich gleich groß bleibt. Nach dieser Ansicht sind die Gesellschaftsformen zwar in beständiger Umbildung begriffen, weisen aber in jeder Periode sowohl Fortschritte als Rückschritte auf, sodaß der Beschauer, je nach Temperament und Vorurteil, ebenso leicht den stetigen Fortschritt wie den stetigen Rückschritt wahrnehmen, das goldne Zeitalter an den Anfang oder ans Ende der Welt¬ geschichte hinträumen kann. Freiheit und Unfreiheit bedeuten in der Menschen- Welt ungefähr dasselbe, wie in der organischen Natur die chemische Bindung und Lösung der Elemente. Indem die Pflanzen- und Tierleiber teils im > Grenzboten II 1889 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/393>, abgerufen am 05.02.2025.