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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Die Folgen der Novelle

Auch die Teuerung wird wahrscheinlich wie andre Übelstände zu recht¬
fertigen sein, immerhin dient sie wenigsten? in den Augen der meisten Gäste
nicht zur Empfehlung des Ortes.

Im allgemeinen wird man nach der gegenwärtigen Lage der Dinge
sagen dürfen: Abbazia ist ein sehr angenehmer Aufenthalt für Gesunde, die
ausspannen wollen, Luftveränderung nud einen Frühliugsvorschuß suchen, sich
weder vor dem "Kraxeln" noch vor der Berührung mit dem (neuestens) "Gigerl"
getauften Wiener Pflastertreter scheuen und eine wvhlgespickte Geldtasche mit¬
bringen.




Die Folgen der Novelle

nicht ein Teil der Verrücktheit, um der unsre modernen
leiden, mit dem rein Äußerlichen ihrer Kunstfon"
zusammenhängen? Wie kann es nur zugehen, daß z. B. -- um
höflicherweise ein ausländisches Beispiel zu nehmen, das mir in
Tagen in die Hände kam-- die svnnendnrchglänzte Wahr¬
heit und Natürlichkeit der ersten Novellen Björnsons der dumpfen Verrückt¬
heit seiner neuen Schriften gewichen ist? Die verwunderliche Thatsache, daß
unsre modernen Dichter zum großem Teil unter den Bann des Materialis-
mus -- sie nennen es euphemistisch Naturalismus -- geraten sind und den
Nachtrnd dieses doch jetzt wenigstens in Deutschland wieder einmal philosophisch
und praktisch abgethanen impotenten Zwitters von lluzufriedeuheit und Hoch-
mut bilden, erklärt die seltsamen Gerichte, die uns aufgetischt werden, nicht
ganz; die, welche auf den Bänken der modernen Dichterschule sitzen -- es
giebt nur eine, die man "modern" zu nennen hat, und sie ist international --
haben sich unter einander angesteckt mit Materialismus, wie die Kiuder mit
Masern; so etwas kommt immer vor, wenn es auch erstaunlich ist, daß
selbst scheinbar ganz gesunde Naturen, wie z. B. Björnson, sich so anfällig
erweisen und nicht mehr die Kraft finden, sich aus dein Sumpf herauszuhelfeu,
in den sie geraten sind; sie müssen sich doch bewußt sein, daß es Schlamm
ist, worin sie rühren. Mögen sie aber immerhin Materialisten sein; der
Materialismus ist eine Weltanschauung, und wenn er auch eine ärmliche und
schwache ist, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß er einem beschränkten
Gemüte Befriedigung gewähren kann, wie es denn auch vergnügte Materia¬
listen zu alten Zeiten gegeben hat, namentlich wo man sich nicht den
Kopf mit der Weltanschauung zerbrach. Die Trübseligkeit und Uuuntur im
Angesicht der modernen Muse oder der Muse "der Moderne" (subsk. ksui.)


Die Folgen der Novelle

Auch die Teuerung wird wahrscheinlich wie andre Übelstände zu recht¬
fertigen sein, immerhin dient sie wenigsten? in den Augen der meisten Gäste
nicht zur Empfehlung des Ortes.

Im allgemeinen wird man nach der gegenwärtigen Lage der Dinge
sagen dürfen: Abbazia ist ein sehr angenehmer Aufenthalt für Gesunde, die
ausspannen wollen, Luftveränderung nud einen Frühliugsvorschuß suchen, sich
weder vor dem „Kraxeln" noch vor der Berührung mit dem (neuestens) „Gigerl"
getauften Wiener Pflastertreter scheuen und eine wvhlgespickte Geldtasche mit¬
bringen.




Die Folgen der Novelle

nicht ein Teil der Verrücktheit, um der unsre modernen
leiden, mit dem rein Äußerlichen ihrer Kunstfon»
zusammenhängen? Wie kann es nur zugehen, daß z. B. — um
höflicherweise ein ausländisches Beispiel zu nehmen, das mir in
Tagen in die Hände kam— die svnnendnrchglänzte Wahr¬
heit und Natürlichkeit der ersten Novellen Björnsons der dumpfen Verrückt¬
heit seiner neuen Schriften gewichen ist? Die verwunderliche Thatsache, daß
unsre modernen Dichter zum großem Teil unter den Bann des Materialis-
mus — sie nennen es euphemistisch Naturalismus — geraten sind und den
Nachtrnd dieses doch jetzt wenigstens in Deutschland wieder einmal philosophisch
und praktisch abgethanen impotenten Zwitters von lluzufriedeuheit und Hoch-
mut bilden, erklärt die seltsamen Gerichte, die uns aufgetischt werden, nicht
ganz; die, welche auf den Bänken der modernen Dichterschule sitzen — es
giebt nur eine, die man „modern" zu nennen hat, und sie ist international —
haben sich unter einander angesteckt mit Materialismus, wie die Kiuder mit
Masern; so etwas kommt immer vor, wenn es auch erstaunlich ist, daß
selbst scheinbar ganz gesunde Naturen, wie z. B. Björnson, sich so anfällig
erweisen und nicht mehr die Kraft finden, sich aus dein Sumpf herauszuhelfeu,
in den sie geraten sind; sie müssen sich doch bewußt sein, daß es Schlamm
ist, worin sie rühren. Mögen sie aber immerhin Materialisten sein; der
Materialismus ist eine Weltanschauung, und wenn er auch eine ärmliche und
schwache ist, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß er einem beschränkten
Gemüte Befriedigung gewähren kann, wie es denn auch vergnügte Materia¬
listen zu alten Zeiten gegeben hat, namentlich wo man sich nicht den
Kopf mit der Weltanschauung zerbrach. Die Trübseligkeit und Uuuntur im
Angesicht der modernen Muse oder der Muse „der Moderne" (subsk. ksui.)


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[0282] Die Folgen der Novelle Auch die Teuerung wird wahrscheinlich wie andre Übelstände zu recht¬ fertigen sein, immerhin dient sie wenigsten? in den Augen der meisten Gäste nicht zur Empfehlung des Ortes. Im allgemeinen wird man nach der gegenwärtigen Lage der Dinge sagen dürfen: Abbazia ist ein sehr angenehmer Aufenthalt für Gesunde, die ausspannen wollen, Luftveränderung nud einen Frühliugsvorschuß suchen, sich weder vor dem „Kraxeln" noch vor der Berührung mit dem (neuestens) „Gigerl" getauften Wiener Pflastertreter scheuen und eine wvhlgespickte Geldtasche mit¬ bringen. Die Folgen der Novelle nicht ein Teil der Verrücktheit, um der unsre modernen leiden, mit dem rein Äußerlichen ihrer Kunstfon» zusammenhängen? Wie kann es nur zugehen, daß z. B. — um höflicherweise ein ausländisches Beispiel zu nehmen, das mir in Tagen in die Hände kam— die svnnendnrchglänzte Wahr¬ heit und Natürlichkeit der ersten Novellen Björnsons der dumpfen Verrückt¬ heit seiner neuen Schriften gewichen ist? Die verwunderliche Thatsache, daß unsre modernen Dichter zum großem Teil unter den Bann des Materialis- mus — sie nennen es euphemistisch Naturalismus — geraten sind und den Nachtrnd dieses doch jetzt wenigstens in Deutschland wieder einmal philosophisch und praktisch abgethanen impotenten Zwitters von lluzufriedeuheit und Hoch- mut bilden, erklärt die seltsamen Gerichte, die uns aufgetischt werden, nicht ganz; die, welche auf den Bänken der modernen Dichterschule sitzen — es giebt nur eine, die man „modern" zu nennen hat, und sie ist international — haben sich unter einander angesteckt mit Materialismus, wie die Kiuder mit Masern; so etwas kommt immer vor, wenn es auch erstaunlich ist, daß selbst scheinbar ganz gesunde Naturen, wie z. B. Björnson, sich so anfällig erweisen und nicht mehr die Kraft finden, sich aus dein Sumpf herauszuhelfeu, in den sie geraten sind; sie müssen sich doch bewußt sein, daß es Schlamm ist, worin sie rühren. Mögen sie aber immerhin Materialisten sein; der Materialismus ist eine Weltanschauung, und wenn er auch eine ärmliche und schwache ist, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß er einem beschränkten Gemüte Befriedigung gewähren kann, wie es denn auch vergnügte Materia¬ listen zu alten Zeiten gegeben hat, namentlich wo man sich nicht den Kopf mit der Weltanschauung zerbrach. Die Trübseligkeit und Uuuntur im Angesicht der modernen Muse oder der Muse „der Moderne" (subsk. ksui.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/282>, abgerufen am 05.02.2025.