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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik.

Ob auch ein überkluges Geschlecht
Dich belächelt als Unverstand;
Ob der banausische Schwarm,
Der in den Tempel der Kunst sich drängt,
Um bei des Altars heiliger Flamme
Mahlzeit zu halten,
Dir, weil du den Mann nicht nährst,
Hochmütig den Rücken kehrt,
Indes ein Heer frecher Stümper
Dich entweiht zu richtigen Spiel:
Immer und ewig
Bleibst du, hochausstrebende Lyrik,
Blüte und Kern der Dichtkunst,

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V .'.S"^s wird wohl keinem litterarischen Menschen, der die Verhältnisse
kennt, heutzutage einfallen, diesen grimmig-begeisterten Worten
Ferdinands von Saar*) zu widersprechen. Die Lyrik hat
gegenwärtig in der That einen schweren Stand, davon wissen
viele andre, auch Saar mindestens ebenbürtige Lyriker und deren
Verleger ein Lied zu singen. Allein ebensowenig werden die noch objektiv ge¬
bliebenen unter ihnen sofort geneigt sein, aus dieser Thatsache so, wie Saar es
gethan hat, eine erbitterte Anklage gegen den Undank der Welt zu schmieden.
Wir wollen ganz absehen davon, daß es gegenwärtig nicht mehr sür geschmack¬
voll gehalten wird, daß Dichter gegen Dichter auftreten, daß Dichter rezensiren.
Wenn irgend eine litterarische Form sich ausgelebt hat, so ist es die der kri¬
tischen Dichtkunst. Für nichts besteht weniger Neigung, als für Litteratur über
Litteratur. So unübersehbar zahlreich sich die kritischen Tribunale vermehrt
haben, so sehr ist die wahre Macht der litterarischen Kritik zusammengeschrumpft.
Man hat einsehen gelernt, daß die litterarischen Erfolge eine in ihren Be¬
dingungen so merkwürdig verwickelte Erscheinung im geistigen Leben der Völker
sind, als es nur irgend die Wirkung eines Ereignisses auf wissenschaftlichem
oder wirtschaftlichem Gebiete sein kann. Ja die Wirkung eines poetischen Werkes



*) Gedichte von Ferdinand von Saar. Zweite, durchgesehene und vermehrte Auf¬
lage. Heidelberg, Georg Weiß, 1888.
Grenzboten II. 1888. 78


Neue Lyrik.

Ob auch ein überkluges Geschlecht
Dich belächelt als Unverstand;
Ob der banausische Schwarm,
Der in den Tempel der Kunst sich drängt,
Um bei des Altars heiliger Flamme
Mahlzeit zu halten,
Dir, weil du den Mann nicht nährst,
Hochmütig den Rücken kehrt,
Indes ein Heer frecher Stümper
Dich entweiht zu richtigen Spiel:
Immer und ewig
Bleibst du, hochausstrebende Lyrik,
Blüte und Kern der Dichtkunst,

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V .'.S»^s wird wohl keinem litterarischen Menschen, der die Verhältnisse
kennt, heutzutage einfallen, diesen grimmig-begeisterten Worten
Ferdinands von Saar*) zu widersprechen. Die Lyrik hat
gegenwärtig in der That einen schweren Stand, davon wissen
viele andre, auch Saar mindestens ebenbürtige Lyriker und deren
Verleger ein Lied zu singen. Allein ebensowenig werden die noch objektiv ge¬
bliebenen unter ihnen sofort geneigt sein, aus dieser Thatsache so, wie Saar es
gethan hat, eine erbitterte Anklage gegen den Undank der Welt zu schmieden.
Wir wollen ganz absehen davon, daß es gegenwärtig nicht mehr sür geschmack¬
voll gehalten wird, daß Dichter gegen Dichter auftreten, daß Dichter rezensiren.
Wenn irgend eine litterarische Form sich ausgelebt hat, so ist es die der kri¬
tischen Dichtkunst. Für nichts besteht weniger Neigung, als für Litteratur über
Litteratur. So unübersehbar zahlreich sich die kritischen Tribunale vermehrt
haben, so sehr ist die wahre Macht der litterarischen Kritik zusammengeschrumpft.
Man hat einsehen gelernt, daß die litterarischen Erfolge eine in ihren Be¬
dingungen so merkwürdig verwickelte Erscheinung im geistigen Leben der Völker
sind, als es nur irgend die Wirkung eines Ereignisses auf wissenschaftlichem
oder wirtschaftlichem Gebiete sein kann. Ja die Wirkung eines poetischen Werkes



*) Gedichte von Ferdinand von Saar. Zweite, durchgesehene und vermehrte Auf¬
lage. Heidelberg, Georg Weiß, 1888.
Grenzboten II. 1888. 78
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[0625] [Abbildung] Neue Lyrik. Ob auch ein überkluges Geschlecht Dich belächelt als Unverstand; Ob der banausische Schwarm, Der in den Tempel der Kunst sich drängt, Um bei des Altars heiliger Flamme Mahlzeit zu halten, Dir, weil du den Mann nicht nährst, Hochmütig den Rücken kehrt, Indes ein Heer frecher Stümper Dich entweiht zu richtigen Spiel: Immer und ewig Bleibst du, hochausstrebende Lyrik, Blüte und Kern der Dichtkunst, > »' >^» H V .'.S»^s wird wohl keinem litterarischen Menschen, der die Verhältnisse kennt, heutzutage einfallen, diesen grimmig-begeisterten Worten Ferdinands von Saar*) zu widersprechen. Die Lyrik hat gegenwärtig in der That einen schweren Stand, davon wissen viele andre, auch Saar mindestens ebenbürtige Lyriker und deren Verleger ein Lied zu singen. Allein ebensowenig werden die noch objektiv ge¬ bliebenen unter ihnen sofort geneigt sein, aus dieser Thatsache so, wie Saar es gethan hat, eine erbitterte Anklage gegen den Undank der Welt zu schmieden. Wir wollen ganz absehen davon, daß es gegenwärtig nicht mehr sür geschmack¬ voll gehalten wird, daß Dichter gegen Dichter auftreten, daß Dichter rezensiren. Wenn irgend eine litterarische Form sich ausgelebt hat, so ist es die der kri¬ tischen Dichtkunst. Für nichts besteht weniger Neigung, als für Litteratur über Litteratur. So unübersehbar zahlreich sich die kritischen Tribunale vermehrt haben, so sehr ist die wahre Macht der litterarischen Kritik zusammengeschrumpft. Man hat einsehen gelernt, daß die litterarischen Erfolge eine in ihren Be¬ dingungen so merkwürdig verwickelte Erscheinung im geistigen Leben der Völker sind, als es nur irgend die Wirkung eines Ereignisses auf wissenschaftlichem oder wirtschaftlichem Gebiete sein kann. Ja die Wirkung eines poetischen Werkes *) Gedichte von Ferdinand von Saar. Zweite, durchgesehene und vermehrte Auf¬ lage. Heidelberg, Georg Weiß, 1888. Grenzboten II. 1888. 78

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/625>, abgerufen am 13.11.2024.