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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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ZVahlfreiheit und Freisinn.

cum die Kartellparteien der Ansicht sind, schreibt die "Breslauer
Zeitung" vom 3. Juni 1883, daß die freisinnige Partei gründlich
abgewirtschaftet habe und jeder Wurzel in dem Herzen des Volkes
beraubt sei, so sollte sie alle Anstrengungen daran setzen, daß bei
den Herbstwahlen die vollkommenste Wahlfreiheit durchgeführt
wird, denn wenn die freisinnigen Führer bei wirklich freien Wahlen ebenso
schlecht abschneiden wie bei den letzten Landtags- und bei den letzten Neichs-
tagswahlen, so werden sie gewiß sehr gern bereit sein, sich von der politischen
Thätigkeit zurückzuziehen. Bisher haben sie die Überzeugung gehabt, daß die
Stimmung des Volkes eine ganz andre gewesen sei, als sie bei diesen unter
Druck und Beängstigung vollzogenen Wahlen zum Ausdruck gekommen ist, und
wer meint, daß sie im Irrtum gewesen, sollte ihnen Gelegenheit geben, sich von
diesem Irrtum zu überzeugen.

Vollkommenste Wahlfreiheit ist das Stichwort der Freisinnigen, die sich
natürlich allein für die richtigen und einzig berufenen Ausleger eines auf die
Wahlfreiheit bezüglichen kaiserlichen Wortes halten. Nichts wäre in der That
erwünschter als eine bei wirklich vollkommenster Wahlfreiheit vollzogene Land¬
tags- oder noch besser Reichstcigswahl. Das "souveräne Volk" könnte in solchem
Falle am besten seine politische Reise zeigen. Aber was versteht man denn
unter Wahlfreiheit bei den Freisinnigen anders als schrankenlose, mit allen er¬
denklichen "Beängstigungen" betriebene Wahlagitation ihrerseits, während alle
andern Parteien sich mäuschenstill verhalten und die Regierung erst recht sich
der geringsten Beeinflussung der Beamten zu enthalten hat. Das letztere ist
trotz alles Leugueus und trotz aller Verdächtigungen geschehen. Aber gerade
wie zur Zeit der letzten Landtags- und Neichstagswahlen erhebt man heute die


Greiizbotm II. 1833. 70


ZVahlfreiheit und Freisinn.

cum die Kartellparteien der Ansicht sind, schreibt die „Breslauer
Zeitung" vom 3. Juni 1883, daß die freisinnige Partei gründlich
abgewirtschaftet habe und jeder Wurzel in dem Herzen des Volkes
beraubt sei, so sollte sie alle Anstrengungen daran setzen, daß bei
den Herbstwahlen die vollkommenste Wahlfreiheit durchgeführt
wird, denn wenn die freisinnigen Führer bei wirklich freien Wahlen ebenso
schlecht abschneiden wie bei den letzten Landtags- und bei den letzten Neichs-
tagswahlen, so werden sie gewiß sehr gern bereit sein, sich von der politischen
Thätigkeit zurückzuziehen. Bisher haben sie die Überzeugung gehabt, daß die
Stimmung des Volkes eine ganz andre gewesen sei, als sie bei diesen unter
Druck und Beängstigung vollzogenen Wahlen zum Ausdruck gekommen ist, und
wer meint, daß sie im Irrtum gewesen, sollte ihnen Gelegenheit geben, sich von
diesem Irrtum zu überzeugen.

Vollkommenste Wahlfreiheit ist das Stichwort der Freisinnigen, die sich
natürlich allein für die richtigen und einzig berufenen Ausleger eines auf die
Wahlfreiheit bezüglichen kaiserlichen Wortes halten. Nichts wäre in der That
erwünschter als eine bei wirklich vollkommenster Wahlfreiheit vollzogene Land¬
tags- oder noch besser Reichstcigswahl. Das „souveräne Volk" könnte in solchem
Falle am besten seine politische Reise zeigen. Aber was versteht man denn
unter Wahlfreiheit bei den Freisinnigen anders als schrankenlose, mit allen er¬
denklichen „Beängstigungen" betriebene Wahlagitation ihrerseits, während alle
andern Parteien sich mäuschenstill verhalten und die Regierung erst recht sich
der geringsten Beeinflussung der Beamten zu enthalten hat. Das letztere ist
trotz alles Leugueus und trotz aller Verdächtigungen geschehen. Aber gerade
wie zur Zeit der letzten Landtags- und Neichstagswahlen erhebt man heute die


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[0561] [Abbildung] ZVahlfreiheit und Freisinn. cum die Kartellparteien der Ansicht sind, schreibt die „Breslauer Zeitung" vom 3. Juni 1883, daß die freisinnige Partei gründlich abgewirtschaftet habe und jeder Wurzel in dem Herzen des Volkes beraubt sei, so sollte sie alle Anstrengungen daran setzen, daß bei den Herbstwahlen die vollkommenste Wahlfreiheit durchgeführt wird, denn wenn die freisinnigen Führer bei wirklich freien Wahlen ebenso schlecht abschneiden wie bei den letzten Landtags- und bei den letzten Neichs- tagswahlen, so werden sie gewiß sehr gern bereit sein, sich von der politischen Thätigkeit zurückzuziehen. Bisher haben sie die Überzeugung gehabt, daß die Stimmung des Volkes eine ganz andre gewesen sei, als sie bei diesen unter Druck und Beängstigung vollzogenen Wahlen zum Ausdruck gekommen ist, und wer meint, daß sie im Irrtum gewesen, sollte ihnen Gelegenheit geben, sich von diesem Irrtum zu überzeugen. Vollkommenste Wahlfreiheit ist das Stichwort der Freisinnigen, die sich natürlich allein für die richtigen und einzig berufenen Ausleger eines auf die Wahlfreiheit bezüglichen kaiserlichen Wortes halten. Nichts wäre in der That erwünschter als eine bei wirklich vollkommenster Wahlfreiheit vollzogene Land¬ tags- oder noch besser Reichstcigswahl. Das „souveräne Volk" könnte in solchem Falle am besten seine politische Reise zeigen. Aber was versteht man denn unter Wahlfreiheit bei den Freisinnigen anders als schrankenlose, mit allen er¬ denklichen „Beängstigungen" betriebene Wahlagitation ihrerseits, während alle andern Parteien sich mäuschenstill verhalten und die Regierung erst recht sich der geringsten Beeinflussung der Beamten zu enthalten hat. Das letztere ist trotz alles Leugueus und trotz aller Verdächtigungen geschehen. Aber gerade wie zur Zeit der letzten Landtags- und Neichstagswahlen erhebt man heute die Greiizbotm II. 1833. 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/561>, abgerufen am 01.09.2024.