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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Italien im Dreibunde.

allen Werken ein kalter, berechnender Doktrinär, er lebt und leidet nicht mit
seinen Gestalten, er steht außerhalb und lenkt mit geschickter Hand die Mario¬
netten in seinen sozialen Romanen, in denen die Organe der Verdauung und
der Fortpflanzung die Brennpunkte bilden.

So lange die Naturalisten die Fähigkeit des versöhnenden Humors nicht
besitzen, können sie uns zwar von den Scheußlichkeiten des Lebens mit pedan¬
tischer Genauigkeit und breiter Geschwätzigkeit eine widerwärtige Abspiegelung
liefern, aber sie werden niemals den Leser zu der Höhe emporheben, von der
er den Pulsschlag unsrer Zeit, das Streben und Kämpfen, das Siegen und
Unterliegen im Gesamtbilde zu schauen vermag. Nach Schopenhauer soll jeder
Roman "ein bloßes Kapitel aus der Pathologie des Geistes" sein, allein die
übertreibender Naturalisten machen ihn zu einer Pathologie des Leibes mit allen
tierischen Trieben, zu einer Brutalitätssymphonie, in welcher der Verstand wieder
zum gemeinen Frohnknecht des rohen Willens herabgesunken ist. Wer wollte
behaupten, daß eine solche litterarische Richtung, wie sie in 1^ ^in-rs ihren trau¬
rigsten Ausdruck gefunden hat, auf die Geistesbildung einer Nation andre als
vergiftende und zersetzende Einflüsse ausüben kann!




Italien im Dreibunde.

n der letzten Zeit haben verschiedne französische Schriftsteller sich
die Aufgabe stellen zu müssen geglaubt, Frankreich und Italien
mit einander zu versöhnen. Zuletzt ergriff ein Italiener das
Wort, um diese Liebeswerbungen zu prüfen und darauf zu er¬
wiedern, und zwar ist es ein hochangesehener Mann, der Marchese
Alfieri, Mitglied des Senats in Rom und Gemahl der Nichte und Erbin
Camillo Cavours, der hier im Namen der Nation oder doch der großen Mehr¬
heit der für die politischen Fragen sich interessirenden Italiener sprach. Man
könnte diese Erörterung auf den ersten Blick als überflüssig anzusehen versucht
sein, denn es herrscht ja kein offener Streit zwischen den beiden Ländern, und
noch weniger bekämpfen sie sich mit den Waffen, ja dies ist seit Jahrhunderten
nicht geschehen. Allerdings überstiegen im Mittelalter und in der neuern Zeit
wiederholt französische Heere die Alpen, aber fast ohne Ausnahme auf Ein¬
ladung eines italienischen Fürsten, der mit einem andern derselben Nation Krieg
führte, oder, wie zuletzt 1859, in der Eigenschaft von Befreiern gegenüber der


Italien im Dreibunde.

allen Werken ein kalter, berechnender Doktrinär, er lebt und leidet nicht mit
seinen Gestalten, er steht außerhalb und lenkt mit geschickter Hand die Mario¬
netten in seinen sozialen Romanen, in denen die Organe der Verdauung und
der Fortpflanzung die Brennpunkte bilden.

So lange die Naturalisten die Fähigkeit des versöhnenden Humors nicht
besitzen, können sie uns zwar von den Scheußlichkeiten des Lebens mit pedan¬
tischer Genauigkeit und breiter Geschwätzigkeit eine widerwärtige Abspiegelung
liefern, aber sie werden niemals den Leser zu der Höhe emporheben, von der
er den Pulsschlag unsrer Zeit, das Streben und Kämpfen, das Siegen und
Unterliegen im Gesamtbilde zu schauen vermag. Nach Schopenhauer soll jeder
Roman „ein bloßes Kapitel aus der Pathologie des Geistes" sein, allein die
übertreibender Naturalisten machen ihn zu einer Pathologie des Leibes mit allen
tierischen Trieben, zu einer Brutalitätssymphonie, in welcher der Verstand wieder
zum gemeinen Frohnknecht des rohen Willens herabgesunken ist. Wer wollte
behaupten, daß eine solche litterarische Richtung, wie sie in 1^ ^in-rs ihren trau¬
rigsten Ausdruck gefunden hat, auf die Geistesbildung einer Nation andre als
vergiftende und zersetzende Einflüsse ausüben kann!




Italien im Dreibunde.

n der letzten Zeit haben verschiedne französische Schriftsteller sich
die Aufgabe stellen zu müssen geglaubt, Frankreich und Italien
mit einander zu versöhnen. Zuletzt ergriff ein Italiener das
Wort, um diese Liebeswerbungen zu prüfen und darauf zu er¬
wiedern, und zwar ist es ein hochangesehener Mann, der Marchese
Alfieri, Mitglied des Senats in Rom und Gemahl der Nichte und Erbin
Camillo Cavours, der hier im Namen der Nation oder doch der großen Mehr¬
heit der für die politischen Fragen sich interessirenden Italiener sprach. Man
könnte diese Erörterung auf den ersten Blick als überflüssig anzusehen versucht
sein, denn es herrscht ja kein offener Streit zwischen den beiden Ländern, und
noch weniger bekämpfen sie sich mit den Waffen, ja dies ist seit Jahrhunderten
nicht geschehen. Allerdings überstiegen im Mittelalter und in der neuern Zeit
wiederholt französische Heere die Alpen, aber fast ohne Ausnahme auf Ein¬
ladung eines italienischen Fürsten, der mit einem andern derselben Nation Krieg
führte, oder, wie zuletzt 1859, in der Eigenschaft von Befreiern gegenüber der


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[0542] Italien im Dreibunde. allen Werken ein kalter, berechnender Doktrinär, er lebt und leidet nicht mit seinen Gestalten, er steht außerhalb und lenkt mit geschickter Hand die Mario¬ netten in seinen sozialen Romanen, in denen die Organe der Verdauung und der Fortpflanzung die Brennpunkte bilden. So lange die Naturalisten die Fähigkeit des versöhnenden Humors nicht besitzen, können sie uns zwar von den Scheußlichkeiten des Lebens mit pedan¬ tischer Genauigkeit und breiter Geschwätzigkeit eine widerwärtige Abspiegelung liefern, aber sie werden niemals den Leser zu der Höhe emporheben, von der er den Pulsschlag unsrer Zeit, das Streben und Kämpfen, das Siegen und Unterliegen im Gesamtbilde zu schauen vermag. Nach Schopenhauer soll jeder Roman „ein bloßes Kapitel aus der Pathologie des Geistes" sein, allein die übertreibender Naturalisten machen ihn zu einer Pathologie des Leibes mit allen tierischen Trieben, zu einer Brutalitätssymphonie, in welcher der Verstand wieder zum gemeinen Frohnknecht des rohen Willens herabgesunken ist. Wer wollte behaupten, daß eine solche litterarische Richtung, wie sie in 1^ ^in-rs ihren trau¬ rigsten Ausdruck gefunden hat, auf die Geistesbildung einer Nation andre als vergiftende und zersetzende Einflüsse ausüben kann! Italien im Dreibunde. n der letzten Zeit haben verschiedne französische Schriftsteller sich die Aufgabe stellen zu müssen geglaubt, Frankreich und Italien mit einander zu versöhnen. Zuletzt ergriff ein Italiener das Wort, um diese Liebeswerbungen zu prüfen und darauf zu er¬ wiedern, und zwar ist es ein hochangesehener Mann, der Marchese Alfieri, Mitglied des Senats in Rom und Gemahl der Nichte und Erbin Camillo Cavours, der hier im Namen der Nation oder doch der großen Mehr¬ heit der für die politischen Fragen sich interessirenden Italiener sprach. Man könnte diese Erörterung auf den ersten Blick als überflüssig anzusehen versucht sein, denn es herrscht ja kein offener Streit zwischen den beiden Ländern, und noch weniger bekämpfen sie sich mit den Waffen, ja dies ist seit Jahrhunderten nicht geschehen. Allerdings überstiegen im Mittelalter und in der neuern Zeit wiederholt französische Heere die Alpen, aber fast ohne Ausnahme auf Ein¬ ladung eines italienischen Fürsten, der mit einem andern derselben Nation Krieg führte, oder, wie zuletzt 1859, in der Eigenschaft von Befreiern gegenüber der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/542>, abgerufen am 13.11.2024.