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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur.

den das Buch hat verwirklichen wollen, nicht mißlungen, und es verdient trotz der
gerügten Mängel eine zweite Auflage, in der dann auch manches wegfallen könnte.
Wen interessiren z. B. die Urteile über Cramer, Götter u. a.?


Ludwig Börne. Sem Leben und sein Wirken nach den Quellen dargestellt von
Dr. Michael Holzmann. Berlin, Oppenheim, 1883.

Die wissenschaftliche (oder wenn man will: zünftige) Litteraturgeschichtschreibnng
steckt gegenwärtig so ausschließlich im achtzehnten Jahrhundert oder in der Goethe¬
forschung, daß darüber die Litteraturgeschichte des neunzehnten entschieden zu kurz
kommt. Mit umso lebhafteren Interesse nimmt man daher ein Buch über eine
der Gestalten des "Jungen Deutschlands" entgegen, das seinem Aeußern nach eine
objektiv wissenschaftliche Leistung zu sein verspricht. So viel Geistreiches auch schon
über jene Zeit in ältern litterarhistorischen Werken gesagt worden ist und noch
zuletzt in der "Deutschen Geschichte" Treitschkes gesagt wurde, eine gute Mono¬
graphie über sie ist noch immer ein wissenschaftliches Bedürfnis, und die Gegenwart
bietet auch neue Gesichtspunkte für ein zusammenfassendes Bild jener litterarischen
Zustände. Es war die Zeit, die den deutschen Journalismus entstehen sah, Börne
war nichts andres als solch ein Meisterjournalist. Darum bietet auch seine Lebens¬
geschichte der Forschung wie der Darstellung große Schwierigkeiten. Eine litterarische
Thätigkeit, die auf die allernächste Wirkung ausgeht, wie sie vom zufälligen Er¬
eignis bestimmt wird, fordert die Umsicht, die Gerechtigkeit, die Sicherheit des Ur¬
teils und zumal die Gestaltungskraft ihres Historikers weit mehr heraus als der stille
Lebensgang des systematischen Denkers oder des sich organisch entwickelnden Künstlers.
Aus einem weit mehr verzweigten Netz von kleinen, äußern, in den Zeitumständen
gelegenen Motiven will eine solche journalistische Persönlichkeit begriffen und er¬
klärt werden. Dem jüngsten Biographen Börnes kann man alles Gute nachsagen,
nur nicht, daß er darstellen könne. Er hat mit großem Fleiße alle Zeugnisse von
Börnes Leben gesammelt, er hat in der großen Zeitschriftenlitteratur jener Zeit
wie ein Hamster herumgewühlt und die schönsten Brocken herausgehoben, alle Kri¬
tiken, welche über, für oder gegen Börne geschrieben wurden, geordnet und vielfach
mitgeteilt; allein er hat in dieser Weise nur die Materialien zu einem Lebens¬
bilde Börnes zusammengestellt, keineswegs aber selbst ein solches künstlerisch ge¬
staltet. Es wäre z. B. nötig gewesen, ein Bild der sozialen Zustände jener Zeit
zu entwerfen, um begreiflich zu machen, wie und warum Börne zu seinem demo¬
kratischen Fanatismus gelangte und anderseits auch, um die Berechtigung seiner
Angriffe zu beleuchten oder deren Gegenteil. Das hat Holzmann unterlassen.
Wenn Börne eiuen ganz abstrakten Freiheitsbegriff vertritt, so muß der Biograph
das Entstehen desselben geschichtlich veranschaulichen und kritisiren. Es fehlt eine
Charakteristik der litterarischen Zustände jener Zeit, um Börnes Stellung innerhalb
derselben zu bestimmen, es wird überall die Kenntnis derselben beim Leser mit
Unrecht vorausgesetzt. Der Verfasser befleißigt sich sichtlich möglichster Objektivität,
allein es ist jene Parteilosigkeit, die sich überhaupt gern des Urteils entschlage.
So erscheint es uus viel zu oberflächlich, Bornes Angriffe gegen Goethe rein als
Gegenstoß gegen den übertriebenen Goetheknltus seiner Zeit aufzufassen. Es ist
nicht zu leugnen: es war ein gut Teil Bornirtheit dabei, Börne hat den Dichter
nicht verstanden, als er dein Greise die vornehme Ruhe zum Verbrechen anrechnete.
Von dem niedrigen Standpunkte des im Tage lebenden und vergehenden Jour¬
nalisten ist eben nicht alles zu beurteilen; Heine hat es nicht gethan, weil er die
Poetische Natur Goethes begriffen hatte. Auch das Verhältnis Börnes zu Heine


Litteratur.

den das Buch hat verwirklichen wollen, nicht mißlungen, und es verdient trotz der
gerügten Mängel eine zweite Auflage, in der dann auch manches wegfallen könnte.
Wen interessiren z. B. die Urteile über Cramer, Götter u. a.?


Ludwig Börne. Sem Leben und sein Wirken nach den Quellen dargestellt von
Dr. Michael Holzmann. Berlin, Oppenheim, 1883.

Die wissenschaftliche (oder wenn man will: zünftige) Litteraturgeschichtschreibnng
steckt gegenwärtig so ausschließlich im achtzehnten Jahrhundert oder in der Goethe¬
forschung, daß darüber die Litteraturgeschichte des neunzehnten entschieden zu kurz
kommt. Mit umso lebhafteren Interesse nimmt man daher ein Buch über eine
der Gestalten des „Jungen Deutschlands" entgegen, das seinem Aeußern nach eine
objektiv wissenschaftliche Leistung zu sein verspricht. So viel Geistreiches auch schon
über jene Zeit in ältern litterarhistorischen Werken gesagt worden ist und noch
zuletzt in der „Deutschen Geschichte" Treitschkes gesagt wurde, eine gute Mono¬
graphie über sie ist noch immer ein wissenschaftliches Bedürfnis, und die Gegenwart
bietet auch neue Gesichtspunkte für ein zusammenfassendes Bild jener litterarischen
Zustände. Es war die Zeit, die den deutschen Journalismus entstehen sah, Börne
war nichts andres als solch ein Meisterjournalist. Darum bietet auch seine Lebens¬
geschichte der Forschung wie der Darstellung große Schwierigkeiten. Eine litterarische
Thätigkeit, die auf die allernächste Wirkung ausgeht, wie sie vom zufälligen Er¬
eignis bestimmt wird, fordert die Umsicht, die Gerechtigkeit, die Sicherheit des Ur¬
teils und zumal die Gestaltungskraft ihres Historikers weit mehr heraus als der stille
Lebensgang des systematischen Denkers oder des sich organisch entwickelnden Künstlers.
Aus einem weit mehr verzweigten Netz von kleinen, äußern, in den Zeitumständen
gelegenen Motiven will eine solche journalistische Persönlichkeit begriffen und er¬
klärt werden. Dem jüngsten Biographen Börnes kann man alles Gute nachsagen,
nur nicht, daß er darstellen könne. Er hat mit großem Fleiße alle Zeugnisse von
Börnes Leben gesammelt, er hat in der großen Zeitschriftenlitteratur jener Zeit
wie ein Hamster herumgewühlt und die schönsten Brocken herausgehoben, alle Kri¬
tiken, welche über, für oder gegen Börne geschrieben wurden, geordnet und vielfach
mitgeteilt; allein er hat in dieser Weise nur die Materialien zu einem Lebens¬
bilde Börnes zusammengestellt, keineswegs aber selbst ein solches künstlerisch ge¬
staltet. Es wäre z. B. nötig gewesen, ein Bild der sozialen Zustände jener Zeit
zu entwerfen, um begreiflich zu machen, wie und warum Börne zu seinem demo¬
kratischen Fanatismus gelangte und anderseits auch, um die Berechtigung seiner
Angriffe zu beleuchten oder deren Gegenteil. Das hat Holzmann unterlassen.
Wenn Börne eiuen ganz abstrakten Freiheitsbegriff vertritt, so muß der Biograph
das Entstehen desselben geschichtlich veranschaulichen und kritisiren. Es fehlt eine
Charakteristik der litterarischen Zustände jener Zeit, um Börnes Stellung innerhalb
derselben zu bestimmen, es wird überall die Kenntnis derselben beim Leser mit
Unrecht vorausgesetzt. Der Verfasser befleißigt sich sichtlich möglichster Objektivität,
allein es ist jene Parteilosigkeit, die sich überhaupt gern des Urteils entschlage.
So erscheint es uus viel zu oberflächlich, Bornes Angriffe gegen Goethe rein als
Gegenstoß gegen den übertriebenen Goetheknltus seiner Zeit aufzufassen. Es ist
nicht zu leugnen: es war ein gut Teil Bornirtheit dabei, Börne hat den Dichter
nicht verstanden, als er dein Greise die vornehme Ruhe zum Verbrechen anrechnete.
Von dem niedrigen Standpunkte des im Tage lebenden und vergehenden Jour¬
nalisten ist eben nicht alles zu beurteilen; Heine hat es nicht gethan, weil er die
Poetische Natur Goethes begriffen hatte. Auch das Verhältnis Börnes zu Heine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/397>, abgerufen am 13.11.2024.