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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur.

mit den Mächten, durch welche es die Verluste erlitten hatte. Nach siebzehn
Jahren könnte auch in Frankreich wenigstens der Anfang einer Beruhigung ein¬
treten, und die große arbeitsame Bevölkerung in Stadt und Land würde sich auch
bereitwillig in die neuen Zustünde finden. Aber eine schließlich verschwindende Mi¬
norität von Schreiern und Strebern will die Beruhigung nicht, die zahllosen
Sklaven der "öffentlichen Meinung" fürchten sich vor dieser und einer vor dem
andern, und selbst die außerhalb dieser Kreise stehenden und Wohlgesinnten lassen
sich von dem Strome mit fortreißen, von den Miasmen, die aus demselben auf¬
steigen, die Sinne umnebeln. Was soll daraus werden? Darf man sich da wun¬
dern, wenn in vielen Köpfen der gewagte Gedanke aufsteigt, um Ruhe zu haben,
müsse Europa diesem Frankreich das Schicksal Polens bereiten?




Litteratur.
Kleine Schriften zur Geschichte und Kultur von Ferdinand Greqorovius.
Zweiter Band. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1838.

Den großen Geschichtschreiber der Stadt Rom im Mittelalter auf den Spuren
der deutschen Litteraturgeschichte zu treffen, wird vielen eine Ueberraschung sein,
aber die Meisterschaft im historischen Essay großen Stils verleugnet er anch da
nicht. Dieser zweite Band seiner Kleinen Schriften enthält einen Aufsatz über
die Brüder Humboldt, den wir als ein Juwel unsrer biographischen Litteratur
bezeichnen dürfen. Gregorovius hat ihn als Einleitung zur Ausgabe des Brief¬
wechsels der beiden Brüder geschrieben, deren Besorgung ihm von der Familie
derselben übertragen war; damals erschien der Aufsatz ohne Namen und scheint, nach
einer Bemerkung des Meisters, nicht beachtet worden zu sein. Nun wird er Wohl
zu der Geltung kommen, die er in jeder Weise verdient. Man weiß nicht, ob
man mehr die Beherrschung des reichen Stoffes oder die Tiefe der psychologischen
Charakteristik oder die Anmut der Form, welche beide Brüder gleichzeitig kon-
trastirend dem Leser vor Augen hält, bewundern soll. Aus einem andern merk¬
würdigen Kapitel dieses Bandes: "Fünf Tage vor Metz" stammt folgende Aeußerung:
"Ich habe mehr als hundert Schlachten in den Geschichten der Zeit beschrieben,
und es deshalb verdient, daß ich einmal eine aus respektvoller Ferne mit Augen
sehen mußte, und damit will ich mich auch für mein Leben lang begnügt haben."
Gregorovius besuchte in den welthistorischen Oktobertagen des Jahres 1870 seinen
im Lager vor Metz stehenden Bruder, einen höhern Offizier, und die Eindrücke,
Beobachtungen, Gedanken und Gefühle jener gewaltigen Tage hat er in fesselnder,
oft hinreißender Weise geschildert. Gregorovius trägt immer und überall sein
großes historisches Denken und Fühlen mit sich. Auch seine Reisebeschreibung:
"Segesta, Selinunt und der Mons Eryx" ist erfüllt von solchen welthistorischen
Lichtblicken in die fernste Vergangenheit der Zivilisation, welcher kunstvoll die
Gegenwart mit ihren Politischen und technischen Umwälzungen gegenübergestellt
wird. Der Elegiker und Poet der Geschichtschreibung bricht durch bei der weh¬
mütigen Betrachtung der modernen, maulwurfartig forschenden Archäologie im Stile


Litteratur.

mit den Mächten, durch welche es die Verluste erlitten hatte. Nach siebzehn
Jahren könnte auch in Frankreich wenigstens der Anfang einer Beruhigung ein¬
treten, und die große arbeitsame Bevölkerung in Stadt und Land würde sich auch
bereitwillig in die neuen Zustünde finden. Aber eine schließlich verschwindende Mi¬
norität von Schreiern und Strebern will die Beruhigung nicht, die zahllosen
Sklaven der „öffentlichen Meinung" fürchten sich vor dieser und einer vor dem
andern, und selbst die außerhalb dieser Kreise stehenden und Wohlgesinnten lassen
sich von dem Strome mit fortreißen, von den Miasmen, die aus demselben auf¬
steigen, die Sinne umnebeln. Was soll daraus werden? Darf man sich da wun¬
dern, wenn in vielen Köpfen der gewagte Gedanke aufsteigt, um Ruhe zu haben,
müsse Europa diesem Frankreich das Schicksal Polens bereiten?




Litteratur.
Kleine Schriften zur Geschichte und Kultur von Ferdinand Greqorovius.
Zweiter Band. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1838.

Den großen Geschichtschreiber der Stadt Rom im Mittelalter auf den Spuren
der deutschen Litteraturgeschichte zu treffen, wird vielen eine Ueberraschung sein,
aber die Meisterschaft im historischen Essay großen Stils verleugnet er anch da
nicht. Dieser zweite Band seiner Kleinen Schriften enthält einen Aufsatz über
die Brüder Humboldt, den wir als ein Juwel unsrer biographischen Litteratur
bezeichnen dürfen. Gregorovius hat ihn als Einleitung zur Ausgabe des Brief¬
wechsels der beiden Brüder geschrieben, deren Besorgung ihm von der Familie
derselben übertragen war; damals erschien der Aufsatz ohne Namen und scheint, nach
einer Bemerkung des Meisters, nicht beachtet worden zu sein. Nun wird er Wohl
zu der Geltung kommen, die er in jeder Weise verdient. Man weiß nicht, ob
man mehr die Beherrschung des reichen Stoffes oder die Tiefe der psychologischen
Charakteristik oder die Anmut der Form, welche beide Brüder gleichzeitig kon-
trastirend dem Leser vor Augen hält, bewundern soll. Aus einem andern merk¬
würdigen Kapitel dieses Bandes: „Fünf Tage vor Metz" stammt folgende Aeußerung:
„Ich habe mehr als hundert Schlachten in den Geschichten der Zeit beschrieben,
und es deshalb verdient, daß ich einmal eine aus respektvoller Ferne mit Augen
sehen mußte, und damit will ich mich auch für mein Leben lang begnügt haben."
Gregorovius besuchte in den welthistorischen Oktobertagen des Jahres 1870 seinen
im Lager vor Metz stehenden Bruder, einen höhern Offizier, und die Eindrücke,
Beobachtungen, Gedanken und Gefühle jener gewaltigen Tage hat er in fesselnder,
oft hinreißender Weise geschildert. Gregorovius trägt immer und überall sein
großes historisches Denken und Fühlen mit sich. Auch seine Reisebeschreibung:
„Segesta, Selinunt und der Mons Eryx" ist erfüllt von solchen welthistorischen
Lichtblicken in die fernste Vergangenheit der Zivilisation, welcher kunstvoll die
Gegenwart mit ihren Politischen und technischen Umwälzungen gegenübergestellt
wird. Der Elegiker und Poet der Geschichtschreibung bricht durch bei der weh¬
mütigen Betrachtung der modernen, maulwurfartig forschenden Archäologie im Stile


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/349>, abgerufen am 27.07.2024.