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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Kleinere Mitteilungen.
Ein einheitliches evangelisches Kirchengesaugbuch.

Schon früher
habe ich in den Grenzboten (Jahrgang 1887, II. S. 222) auf die Zersplitterung
der deutschen evangelischen Kirche und insbesondre darauf hingewiesen, daß es noch
nicht einmal gelungen ist, ein einheitliches evangelisches Kirchengesangbuch für Deutsch¬
land überhaupt oder wenigstens für Preußen ins Leben zu rufen. Diese Frage
wird um so brennender, als nach der neuesten Entwicklung der Dinge die Zahl der
schon in Gebrauch befindlichen Gesangbücher immer noch zu wachsen droht, indem
die "fakultative" Einführung eines neuen Gesangbuches in Hannover vor mehreren
Jahren dort die Zahl der geltenden Gesangbücher von neunzehn auf zwanzig ge¬
bracht hat und im Konsistorialbczirk Kassel augenblicklich der gleiche Versuch mit
entsprechend gleichem Erfolge angestellt werden zu sollen scheint. Freilich sind diese
Versuche zunächst nicht ans dem Bedürfnisse, an Stelle der verschiednen üblichen
Gesangbücher ein einziges zu sehen, hervorgegangen, sondern man will vor allem
an die Stelle von Gesangbüchern, deren Inhalt an maßgebender Stelle nicht zu¬
sagt, ein neues, den dort herrschenden Ansichten entsprechendes Gesangbuch einführen,
welches in zweiter Linie auch vielleicht mit der Zeit das alleinige Gesangbuch
werden könnte. Da aber hierdurch die ganze Sache von vornherein einen Partei¬
anstrich bekommt und der zur Durchführung eines so großen Werkes notwendigen
begeisterten Mitwirkung aller Parteien entbehren muß, so ist es selbstverständlich,
daß im audern Lager sofort, wenn auch zum Teil völlig grundlos, der Geist des
Widerspruchs geweckt wird und dadurch die selbstverständlich nur "fakultativ" mög¬
liche Einführung eines neuen Gesangbuches nur zur Vermehrung der herrschenden
Zersplitterung dient. Welche bedauerlichen Zustände aber werden dadurch hervor¬
gerufen, daß in ein und derselben Kirche gleichzeitig zwei Gesangbücher gebraucht
werde"! Einerseits beschränkt es den Geistlichen in der Auswahl der zu singenden
Lieder, da er nur solche nehmen darf, die in beiden Gesangbüchern stehen, ander¬
seits wirkt es störend, daß die Lieder nach mehr oder weniger verschiednen Texten
gesungen werden. Soll also ein neues Gesangbuch eingeführt werden, so muß es
vor allen Dingen von dem Gesichtspunkte aus bearbeitet werden, die in der evan¬
gelischen Kirche herrschende Zersplitterung zu beseitigen, damit alle Parteien, welche
noch Sinn für kirchliches Leben haben, daran mitarbeiten können, und statt einer
"fakultativen" eine allgemein gleichzeitige Einführung (natürlich mit der erforder¬
lichen Uebergangszeit) stattfinden kann. Ohne etwas Zwang ist eine solche Aende¬
rung undurchführbar, dieser Zwang verliert aber seine Härten, wenn er mit mög¬
lichst allgemeiner Zustimmung beschlossen wird. Daß die Einführung eines ein¬
heitlichen Gesangbuches gleichzeitig zur Beseitigung mancher Schwächen der jetzt im
Gebrauch befindlichen Gesangbücher dienen könnte, braucht wohl nicht besonders be¬
merkt zu werden. Eine Menge von den Gesangbüchern, die wir jetzt gebrauchen,
verdankt ihre Entstehung dem Ende des vorigen Jahrhunderts und der damals
herrschenden "Aufklärung," welche allerdings ab und zu scherzhafte Blüten trieb.
So hat man z. B. in einem Gesangbuche den Anfang des schönen Liedes:


Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Stcidt' und Felder;
Es schläft die ganze Welt

Grenzboten II. 1888. ^5
Kleinere Mitteilungen.
Ein einheitliches evangelisches Kirchengesaugbuch.

Schon früher
habe ich in den Grenzboten (Jahrgang 1887, II. S. 222) auf die Zersplitterung
der deutschen evangelischen Kirche und insbesondre darauf hingewiesen, daß es noch
nicht einmal gelungen ist, ein einheitliches evangelisches Kirchengesangbuch für Deutsch¬
land überhaupt oder wenigstens für Preußen ins Leben zu rufen. Diese Frage
wird um so brennender, als nach der neuesten Entwicklung der Dinge die Zahl der
schon in Gebrauch befindlichen Gesangbücher immer noch zu wachsen droht, indem
die „fakultative" Einführung eines neuen Gesangbuches in Hannover vor mehreren
Jahren dort die Zahl der geltenden Gesangbücher von neunzehn auf zwanzig ge¬
bracht hat und im Konsistorialbczirk Kassel augenblicklich der gleiche Versuch mit
entsprechend gleichem Erfolge angestellt werden zu sollen scheint. Freilich sind diese
Versuche zunächst nicht ans dem Bedürfnisse, an Stelle der verschiednen üblichen
Gesangbücher ein einziges zu sehen, hervorgegangen, sondern man will vor allem
an die Stelle von Gesangbüchern, deren Inhalt an maßgebender Stelle nicht zu¬
sagt, ein neues, den dort herrschenden Ansichten entsprechendes Gesangbuch einführen,
welches in zweiter Linie auch vielleicht mit der Zeit das alleinige Gesangbuch
werden könnte. Da aber hierdurch die ganze Sache von vornherein einen Partei¬
anstrich bekommt und der zur Durchführung eines so großen Werkes notwendigen
begeisterten Mitwirkung aller Parteien entbehren muß, so ist es selbstverständlich,
daß im audern Lager sofort, wenn auch zum Teil völlig grundlos, der Geist des
Widerspruchs geweckt wird und dadurch die selbstverständlich nur „fakultativ" mög¬
liche Einführung eines neuen Gesangbuches nur zur Vermehrung der herrschenden
Zersplitterung dient. Welche bedauerlichen Zustände aber werden dadurch hervor¬
gerufen, daß in ein und derselben Kirche gleichzeitig zwei Gesangbücher gebraucht
werde«! Einerseits beschränkt es den Geistlichen in der Auswahl der zu singenden
Lieder, da er nur solche nehmen darf, die in beiden Gesangbüchern stehen, ander¬
seits wirkt es störend, daß die Lieder nach mehr oder weniger verschiednen Texten
gesungen werden. Soll also ein neues Gesangbuch eingeführt werden, so muß es
vor allen Dingen von dem Gesichtspunkte aus bearbeitet werden, die in der evan¬
gelischen Kirche herrschende Zersplitterung zu beseitigen, damit alle Parteien, welche
noch Sinn für kirchliches Leben haben, daran mitarbeiten können, und statt einer
„fakultativen" eine allgemein gleichzeitige Einführung (natürlich mit der erforder¬
lichen Uebergangszeit) stattfinden kann. Ohne etwas Zwang ist eine solche Aende¬
rung undurchführbar, dieser Zwang verliert aber seine Härten, wenn er mit mög¬
lichst allgemeiner Zustimmung beschlossen wird. Daß die Einführung eines ein¬
heitlichen Gesangbuches gleichzeitig zur Beseitigung mancher Schwächen der jetzt im
Gebrauch befindlichen Gesangbücher dienen könnte, braucht wohl nicht besonders be¬
merkt zu werden. Eine Menge von den Gesangbüchern, die wir jetzt gebrauchen,
verdankt ihre Entstehung dem Ende des vorigen Jahrhunderts und der damals
herrschenden „Aufklärung," welche allerdings ab und zu scherzhafte Blüten trieb.
So hat man z. B. in einem Gesangbuche den Anfang des schönen Liedes:


Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Stcidt' und Felder;
Es schläft die ganze Welt

Grenzboten II. 1888. ^5
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[0201] Kleinere Mitteilungen. Ein einheitliches evangelisches Kirchengesaugbuch. Schon früher habe ich in den Grenzboten (Jahrgang 1887, II. S. 222) auf die Zersplitterung der deutschen evangelischen Kirche und insbesondre darauf hingewiesen, daß es noch nicht einmal gelungen ist, ein einheitliches evangelisches Kirchengesangbuch für Deutsch¬ land überhaupt oder wenigstens für Preußen ins Leben zu rufen. Diese Frage wird um so brennender, als nach der neuesten Entwicklung der Dinge die Zahl der schon in Gebrauch befindlichen Gesangbücher immer noch zu wachsen droht, indem die „fakultative" Einführung eines neuen Gesangbuches in Hannover vor mehreren Jahren dort die Zahl der geltenden Gesangbücher von neunzehn auf zwanzig ge¬ bracht hat und im Konsistorialbczirk Kassel augenblicklich der gleiche Versuch mit entsprechend gleichem Erfolge angestellt werden zu sollen scheint. Freilich sind diese Versuche zunächst nicht ans dem Bedürfnisse, an Stelle der verschiednen üblichen Gesangbücher ein einziges zu sehen, hervorgegangen, sondern man will vor allem an die Stelle von Gesangbüchern, deren Inhalt an maßgebender Stelle nicht zu¬ sagt, ein neues, den dort herrschenden Ansichten entsprechendes Gesangbuch einführen, welches in zweiter Linie auch vielleicht mit der Zeit das alleinige Gesangbuch werden könnte. Da aber hierdurch die ganze Sache von vornherein einen Partei¬ anstrich bekommt und der zur Durchführung eines so großen Werkes notwendigen begeisterten Mitwirkung aller Parteien entbehren muß, so ist es selbstverständlich, daß im audern Lager sofort, wenn auch zum Teil völlig grundlos, der Geist des Widerspruchs geweckt wird und dadurch die selbstverständlich nur „fakultativ" mög¬ liche Einführung eines neuen Gesangbuches nur zur Vermehrung der herrschenden Zersplitterung dient. Welche bedauerlichen Zustände aber werden dadurch hervor¬ gerufen, daß in ein und derselben Kirche gleichzeitig zwei Gesangbücher gebraucht werde«! Einerseits beschränkt es den Geistlichen in der Auswahl der zu singenden Lieder, da er nur solche nehmen darf, die in beiden Gesangbüchern stehen, ander¬ seits wirkt es störend, daß die Lieder nach mehr oder weniger verschiednen Texten gesungen werden. Soll also ein neues Gesangbuch eingeführt werden, so muß es vor allen Dingen von dem Gesichtspunkte aus bearbeitet werden, die in der evan¬ gelischen Kirche herrschende Zersplitterung zu beseitigen, damit alle Parteien, welche noch Sinn für kirchliches Leben haben, daran mitarbeiten können, und statt einer „fakultativen" eine allgemein gleichzeitige Einführung (natürlich mit der erforder¬ lichen Uebergangszeit) stattfinden kann. Ohne etwas Zwang ist eine solche Aende¬ rung undurchführbar, dieser Zwang verliert aber seine Härten, wenn er mit mög¬ lichst allgemeiner Zustimmung beschlossen wird. Daß die Einführung eines ein¬ heitlichen Gesangbuches gleichzeitig zur Beseitigung mancher Schwächen der jetzt im Gebrauch befindlichen Gesangbücher dienen könnte, braucht wohl nicht besonders be¬ merkt zu werden. Eine Menge von den Gesangbüchern, die wir jetzt gebrauchen, verdankt ihre Entstehung dem Ende des vorigen Jahrhunderts und der damals herrschenden „Aufklärung," welche allerdings ab und zu scherzhafte Blüten trieb. So hat man z. B. in einem Gesangbuche den Anfang des schönen Liedes: Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Stcidt' und Felder; Es schläft die ganze Welt Grenzboten II. 1888. ^5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/201>, abgerufen am 13.11.2024.