Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände. as Studium der Geschichte und die eigne Lebenserfahrung haben Wenn ein ruhiger Beobachter Bücher, Zeitungen und Broschüren liest, Die Arbeiter klagen über Mangel an Arbeitsgelegenheit und ungenügende Und nun gar die Landwirtschaft! Sie läßt -- groß und klein -- den Alle diese Klagen werden durch zahlreiche und zuweilen recht anschauliche Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände. as Studium der Geschichte und die eigne Lebenserfahrung haben Wenn ein ruhiger Beobachter Bücher, Zeitungen und Broschüren liest, Die Arbeiter klagen über Mangel an Arbeitsgelegenheit und ungenügende Und nun gar die Landwirtschaft! Sie läßt — groß und klein — den Alle diese Klagen werden durch zahlreiche und zuweilen recht anschauliche <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0013" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200792"/> </div> <div n="1"> <head> Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.</head><lb/> <p xml:id="ID_17"> as Studium der Geschichte und die eigne Lebenserfahrung haben<lb/> mich belehrt, daß nicht nur die Münzen zwei Seiten haben, sondern<lb/> auch alle andern Dinge, auch die Menschen, ihre Handlungen und<lb/> Zustände. Es wird daher gestattet sein, vielleicht nützlich und<lb/> und für manchen tröstlich, unsre wirtschaftlichen Zustände anch<lb/> einmal auf der Kehrseite, die nicht gerade obenauf liegt, zu betrachten.</p><lb/> <p xml:id="ID_18"> Wenn ein ruhiger Beobachter Bücher, Zeitungen und Broschüren liest,<lb/> wenn er den Verhandlungen der Parlamente folgt und sonst ein Ohr hat für<lb/> die zahlreichen Äußerungen. wie sie von Korporationen, Vereinen und andern<lb/> Organen über unsre wirtschaftlichen Zustände ausgehen, so müßte er nach diesen<lb/> Quellen die Überzeugung gewinnen, daß wir uns nicht nur in einem Zustande<lb/> wirtschaftlichen Stillstandes befänden, sondern geradezu in vollem Rückgange,<lb/> er müßte glauben, daß der Volkswohlstand ernstlich bedroht sei, daß sür unsre<lb/> Kultur bedenkliche Befürchtungen nicht abzuweisen seien.</p><lb/> <p xml:id="ID_19"> Die Arbeiter klagen über Mangel an Arbeitsgelegenheit und ungenügende<lb/> Löhne; die Handwerker erkläre», dein Druck der kapitalistischen Produktionsweise<lb/> nicht länger widerstehen zu können; die Industriellen leiden an Überproduktion<lb/> und ungenügendem Absatz; der Handel ist im Rückgange begriffen und sieht in<lb/> den vielen Tausenden seiner Gehilfen, die er nicht zu beschäftigen weiß, ein<lb/> neues Proletariat heranwachsen; die große Klasse derjenigen, die sich dem Dienste<lb/> des Staates und der Gemeinde widmen, ist bei weitem größer als das Be¬<lb/> dürfnis, und auch in diesen Kreisen spricht man von einem entstehenden oder<lb/> gar bereits entstandenen Proletariat.</p><lb/> <p xml:id="ID_20"> Und nun gar die Landwirtschaft! Sie läßt — groß und klein — den<lb/> ängstlichsten Notschrei ertönen, sie kann nicht vor der Konkurrenz von Amerika,<lb/> Indien und China bestehen, ja die zur Erzielung der Feldfrüchte aufgewendeten<lb/> Kosten werdeu nicht mehr durch den Erlös gedeckt; der Bauer geht zu Grunde,<lb/> der größere Besitzer verarmt, und weil ja der Staat meist auf der Landwirt¬<lb/> schaft beruht, so muß er durchaus und mit allen Mitteln helfen!</p><lb/> <p xml:id="ID_21" next="#ID_22"> Alle diese Klagen werden durch zahlreiche und zuweilen recht anschauliche<lb/> Thatsachen belegt und begründet; die Statistik, diese Magd aller Ansichten und<lb/> Behauptungen — denn wer beriefe sich nicht auf sie! — wird zu Hilfe gerufen,<lb/> nicht immer ohne Erfolg, und die vereinigten Stimmen aller klagenden Berufs¬<lb/> klassen erschallen so laut und vernehmlich, daß alle, die nicht durch selbstische<lb/> Interessen mißleitet sind, daß Wissenschaft, Vereine, Korporationen, Gemeinden<lb/> und Staat der verlangten Hilfsleistung sich nicht mehr entziehen können, daß</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0013]
Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.
as Studium der Geschichte und die eigne Lebenserfahrung haben
mich belehrt, daß nicht nur die Münzen zwei Seiten haben, sondern
auch alle andern Dinge, auch die Menschen, ihre Handlungen und
Zustände. Es wird daher gestattet sein, vielleicht nützlich und
und für manchen tröstlich, unsre wirtschaftlichen Zustände anch
einmal auf der Kehrseite, die nicht gerade obenauf liegt, zu betrachten.
Wenn ein ruhiger Beobachter Bücher, Zeitungen und Broschüren liest,
wenn er den Verhandlungen der Parlamente folgt und sonst ein Ohr hat für
die zahlreichen Äußerungen. wie sie von Korporationen, Vereinen und andern
Organen über unsre wirtschaftlichen Zustände ausgehen, so müßte er nach diesen
Quellen die Überzeugung gewinnen, daß wir uns nicht nur in einem Zustande
wirtschaftlichen Stillstandes befänden, sondern geradezu in vollem Rückgange,
er müßte glauben, daß der Volkswohlstand ernstlich bedroht sei, daß sür unsre
Kultur bedenkliche Befürchtungen nicht abzuweisen seien.
Die Arbeiter klagen über Mangel an Arbeitsgelegenheit und ungenügende
Löhne; die Handwerker erkläre», dein Druck der kapitalistischen Produktionsweise
nicht länger widerstehen zu können; die Industriellen leiden an Überproduktion
und ungenügendem Absatz; der Handel ist im Rückgange begriffen und sieht in
den vielen Tausenden seiner Gehilfen, die er nicht zu beschäftigen weiß, ein
neues Proletariat heranwachsen; die große Klasse derjenigen, die sich dem Dienste
des Staates und der Gemeinde widmen, ist bei weitem größer als das Be¬
dürfnis, und auch in diesen Kreisen spricht man von einem entstehenden oder
gar bereits entstandenen Proletariat.
Und nun gar die Landwirtschaft! Sie läßt — groß und klein — den
ängstlichsten Notschrei ertönen, sie kann nicht vor der Konkurrenz von Amerika,
Indien und China bestehen, ja die zur Erzielung der Feldfrüchte aufgewendeten
Kosten werdeu nicht mehr durch den Erlös gedeckt; der Bauer geht zu Grunde,
der größere Besitzer verarmt, und weil ja der Staat meist auf der Landwirt¬
schaft beruht, so muß er durchaus und mit allen Mitteln helfen!
Alle diese Klagen werden durch zahlreiche und zuweilen recht anschauliche
Thatsachen belegt und begründet; die Statistik, diese Magd aller Ansichten und
Behauptungen — denn wer beriefe sich nicht auf sie! — wird zu Hilfe gerufen,
nicht immer ohne Erfolg, und die vereinigten Stimmen aller klagenden Berufs¬
klassen erschallen so laut und vernehmlich, daß alle, die nicht durch selbstische
Interessen mißleitet sind, daß Wissenschaft, Vereine, Korporationen, Gemeinden
und Staat der verlangten Hilfsleistung sich nicht mehr entziehen können, daß
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |