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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Deutsch-böhmische Briefe.
5.

he ich Ihnen Genaueres über die Versuche zur Tschechisirung
der deutschen Striche Böhmens berichte, wollen Sie mir gestatten,
mit einiger Ausführlichkeit über die ethnographischen Verhält¬
nisse dieser Provinz Österreichs Auskunft zu geben. Die Un¬
kenntnis, welche hinsichtlich derselben vielfach herrscht, ist so groß,
daß behauptet werden konnte, in Böhmen bestehe gar kein geschlossenes deutsches
Sprachgebiet, während doch die veröffentlichten und jedermann zugänglichen Ergeb¬
nisse der vorletzten Volkszählung das Vorhandensein eines solchen, und zwar eines
sehr ausgedehnten, unbestreitbar erkennen lassen, und während es anderseits für
eine gerechte Beurteilung des Nationalitätenstreites, der Ansprüche der Tschechen
und der Unterstützung derselben durch die Regierung von höchster Wichtigkeit
ist, hier wohl unterrichtet zu sein.

Im Folgenden wird durch Zahlen nachgewiesen werden, wie es mit dem
deutschen Sprachgebiete in Böhmen steht. Vorher sei aber bemerkt, daß eine
Vergleichung der beiden von ihm eingeschlossenen Kreisgerichtssprcngel Eger und
Leipci, die kaum ein Drittel der deutschböhmischen Bevölkerung umfassen, mit
den für reindeutsch geltenden Ländern Cisleithaniens Thatsachen ergiebt, die
viele überraschen werden. Die absolute Zahl der Deutschen nämlich, die in
jenen beiden Bezirken wohnen, beträgt 658 702, und nur Niederösterreich mit
2100874, Steiermark mit 794841 und Oberösterreich mit 748080 deutscheu
Einwohnern stehen in dieser Beziehung über ihnen, Mähren mit seinen 628 907
und Tirol mit seinen 423062 Deutschen bleiben hinter ihnen schon erheblich,
die andern Länder aber noch weit mehr zurück. Ferner beläuft sich der An¬
teil der Deutschen an der "zuständigen," d. h. der dem österreichischen Staats¬
verbande angehörigen Bevölkerung der Gerichtssprengcl Eger und Leipa auf
99,64 Prozent, der der Tschechen nur auf 0,36, mit andern Worten: auf
einen Tschechen kommen 273 Deutsche. Dagegen machen die Deutschen in Ober-
österreich nur 99,47, in Vorarlberg 98,56, in Niederösterreich 96,86, in Kärnten
70,22, in Steiermark 67, in Tirol 54,39 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Sehen wir uns Wien an, so sind unter seiner zuständigen Bevölkerung nur
601955 Deutsche, dagegen 25186 Tschechvslawen, d. h. mehr als zehnmal so
viel als in den beiden böhmischen Gerichtsbezirken. Auf einen Tschechvslawen
kommen hier, wie wir sahen, 273, in Wien dagegen nur 24 Deutsche. Folge¬
rungen hieraus abzuleiten scheint hier wohl nicht nötig, die Zahlen genügen
vorläufig.


Deutsch-böhmische Briefe.
5.

he ich Ihnen Genaueres über die Versuche zur Tschechisirung
der deutschen Striche Böhmens berichte, wollen Sie mir gestatten,
mit einiger Ausführlichkeit über die ethnographischen Verhält¬
nisse dieser Provinz Österreichs Auskunft zu geben. Die Un¬
kenntnis, welche hinsichtlich derselben vielfach herrscht, ist so groß,
daß behauptet werden konnte, in Böhmen bestehe gar kein geschlossenes deutsches
Sprachgebiet, während doch die veröffentlichten und jedermann zugänglichen Ergeb¬
nisse der vorletzten Volkszählung das Vorhandensein eines solchen, und zwar eines
sehr ausgedehnten, unbestreitbar erkennen lassen, und während es anderseits für
eine gerechte Beurteilung des Nationalitätenstreites, der Ansprüche der Tschechen
und der Unterstützung derselben durch die Regierung von höchster Wichtigkeit
ist, hier wohl unterrichtet zu sein.

Im Folgenden wird durch Zahlen nachgewiesen werden, wie es mit dem
deutschen Sprachgebiete in Böhmen steht. Vorher sei aber bemerkt, daß eine
Vergleichung der beiden von ihm eingeschlossenen Kreisgerichtssprcngel Eger und
Leipci, die kaum ein Drittel der deutschböhmischen Bevölkerung umfassen, mit
den für reindeutsch geltenden Ländern Cisleithaniens Thatsachen ergiebt, die
viele überraschen werden. Die absolute Zahl der Deutschen nämlich, die in
jenen beiden Bezirken wohnen, beträgt 658 702, und nur Niederösterreich mit
2100874, Steiermark mit 794841 und Oberösterreich mit 748080 deutscheu
Einwohnern stehen in dieser Beziehung über ihnen, Mähren mit seinen 628 907
und Tirol mit seinen 423062 Deutschen bleiben hinter ihnen schon erheblich,
die andern Länder aber noch weit mehr zurück. Ferner beläuft sich der An¬
teil der Deutschen an der „zuständigen," d. h. der dem österreichischen Staats¬
verbande angehörigen Bevölkerung der Gerichtssprengcl Eger und Leipa auf
99,64 Prozent, der der Tschechen nur auf 0,36, mit andern Worten: auf
einen Tschechen kommen 273 Deutsche. Dagegen machen die Deutschen in Ober-
österreich nur 99,47, in Vorarlberg 98,56, in Niederösterreich 96,86, in Kärnten
70,22, in Steiermark 67, in Tirol 54,39 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Sehen wir uns Wien an, so sind unter seiner zuständigen Bevölkerung nur
601955 Deutsche, dagegen 25186 Tschechvslawen, d. h. mehr als zehnmal so
viel als in den beiden böhmischen Gerichtsbezirken. Auf einen Tschechvslawen
kommen hier, wie wir sahen, 273, in Wien dagegen nur 24 Deutsche. Folge¬
rungen hieraus abzuleiten scheint hier wohl nicht nötig, die Zahlen genügen
vorläufig.


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[0632] Deutsch-böhmische Briefe. 5. he ich Ihnen Genaueres über die Versuche zur Tschechisirung der deutschen Striche Böhmens berichte, wollen Sie mir gestatten, mit einiger Ausführlichkeit über die ethnographischen Verhält¬ nisse dieser Provinz Österreichs Auskunft zu geben. Die Un¬ kenntnis, welche hinsichtlich derselben vielfach herrscht, ist so groß, daß behauptet werden konnte, in Böhmen bestehe gar kein geschlossenes deutsches Sprachgebiet, während doch die veröffentlichten und jedermann zugänglichen Ergeb¬ nisse der vorletzten Volkszählung das Vorhandensein eines solchen, und zwar eines sehr ausgedehnten, unbestreitbar erkennen lassen, und während es anderseits für eine gerechte Beurteilung des Nationalitätenstreites, der Ansprüche der Tschechen und der Unterstützung derselben durch die Regierung von höchster Wichtigkeit ist, hier wohl unterrichtet zu sein. Im Folgenden wird durch Zahlen nachgewiesen werden, wie es mit dem deutschen Sprachgebiete in Böhmen steht. Vorher sei aber bemerkt, daß eine Vergleichung der beiden von ihm eingeschlossenen Kreisgerichtssprcngel Eger und Leipci, die kaum ein Drittel der deutschböhmischen Bevölkerung umfassen, mit den für reindeutsch geltenden Ländern Cisleithaniens Thatsachen ergiebt, die viele überraschen werden. Die absolute Zahl der Deutschen nämlich, die in jenen beiden Bezirken wohnen, beträgt 658 702, und nur Niederösterreich mit 2100874, Steiermark mit 794841 und Oberösterreich mit 748080 deutscheu Einwohnern stehen in dieser Beziehung über ihnen, Mähren mit seinen 628 907 und Tirol mit seinen 423062 Deutschen bleiben hinter ihnen schon erheblich, die andern Länder aber noch weit mehr zurück. Ferner beläuft sich der An¬ teil der Deutschen an der „zuständigen," d. h. der dem österreichischen Staats¬ verbande angehörigen Bevölkerung der Gerichtssprengcl Eger und Leipa auf 99,64 Prozent, der der Tschechen nur auf 0,36, mit andern Worten: auf einen Tschechen kommen 273 Deutsche. Dagegen machen die Deutschen in Ober- österreich nur 99,47, in Vorarlberg 98,56, in Niederösterreich 96,86, in Kärnten 70,22, in Steiermark 67, in Tirol 54,39 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Sehen wir uns Wien an, so sind unter seiner zuständigen Bevölkerung nur 601955 Deutsche, dagegen 25186 Tschechvslawen, d. h. mehr als zehnmal so viel als in den beiden böhmischen Gerichtsbezirken. Auf einen Tschechvslawen kommen hier, wie wir sahen, 273, in Wien dagegen nur 24 Deutsche. Folge¬ rungen hieraus abzuleiten scheint hier wohl nicht nötig, die Zahlen genügen vorläufig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/632>, abgerufen am 29.06.2024.