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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Kleinere Mitteilungen,

liebliche, venetianische Dialekt nicht auszurotten war, "in den, -- nach Gsell-Fels -- eine
Menge gröberer Konsonanten durch feinere Lebensauffassung abgeschliffen" sind.




Achill im Frack.

Durch die Konzcrtsäle der größern deutscheu Städte macht
diesen Winter ein neues Werk die Runde: Achilleus, Dichtung nach Motiven
der Ilias von Heinrich Bnlthanpt, für Solostimmen, Chor und Orchester kom-
ponirt von Max Bruch, Man fragt sich kopfschüttelnd, ob wir denn wirklich
im Zeitalter des vielgepriesenen Realismus leben, wenn so etwas uoch möglich ist,
daß" ein Achill im Frack und mit der weißen Halsbinde und eine Andromache im
seidnen, blumenbesteckten Schleppkleide auf dem Podium des Konzertsaales mit dem
Noteuhefte in der Hand stehen und uuter dem Taktgcwedel eiues Kapellmeisters
und demi Geigen-/Trompeten- und Paukenschall eines Orchesters mit hochroten
Köpfen und im Schweiße ihres Angesichts einem verehrlichen Publikum ihr Herze¬
leid vorsingen? Man könnte sagen: Ja, geschieht deun in einem Hundelöcher Ora¬
torium, dessen Stoff der alttestamentlichen Geschichte entnommen ist, etwas andres?
Gewiß nicht. Aber das ist eben ein Händelsches Oratorium, Händel lebte be¬
kanntlich von 1685 bis 1759. Wenn wir heute ein Händelsches Oratorium hören,
so nehmen wir es hin als ein Werk seiner Zeit, der Zeit der sogenannten Re¬
naissance -- man hat ja nenerdings dieses Schlagwort von dein Gebiete der
bildenden Kunst auch auf die andern Kunstgebiete übertragen und dabei die Grenzen
der Zeit, die man darunter versteht, weit vorgeschoben bis in das achtzehnte Jahr¬
hundert hinein --, jener Zeit, in der die Kunst ihre Stoffe fast ausschließlich dem
Altertum, der biblischen Geschichte, der orientalischen Geschichte, dem Mythus, der
Sage und der Geschichte Griechenlands und Roms entnahm, und zwar in der
naivsten Begeisterung dafür entnahm. Wir nehmen heute ein solches Werk hin als
reine Musik, der Text ist uns ganz gleichgiltig, und ebenso gleichgiltig, daß der
Samson oder der Judas MacenbäuS da oben einen Frack anhat. Aber ein Oratorium
"Achill" -- 1887! Wer will uns glauben machen, daß das ein Werk sein könne
aus dein Geiste unsrer Zeit heraus geboren, aus der geringsten innern Nötigung
entstanden? Johannes Scherr hatte unter den vielen garstigen Wörtern, die er
sich sür seinen Privatgebrauch zurechtgemacht hatte - nnchgebrnncht hat sie ihm
niemand -- auch das Wort "Machenschaft." Nun wohl, "Machenschaft" sind alle
unsre archäologischen Romane gewesen, an denen doch anch das große Publikum
jetzt Gott sei Dank den Geschmack allmählich zu verlieren anfängt, "Machenschaft"
ist es anch, wenn heutzutage immer wieder derartige archäologische, Oratorien
aufgetischt werden. Das muß einmal offen ausgesprochen werden, ES würde ganz
unfaßbar sein, wie ein so geschmackvoller Literarhistoriker, Kritiker und Aesthetiker
wie Bulthanpt dazu kommt, deu Text zu so etwas zu "liefern," wenn man eben
nicht wüßte, wie es in solchen Dingen zugeht. Unsre großen Konzertinstitutc, unsre
Chorgesnngvereine, unsre akademischen Gesangvereine brauchen angeblich jeden Winter
eine sogenannte "Novität," Diesem Bedürfnis kommen unsre Herren Kapellmeister
entgegen, peinigen irgend jemand, der "Verse machen" kann, um einen Text, und
nun beginnt krampfhaft das Notenschreiben. "Machenschaft" ist alles.
"

Die "Motive, die Bulthanpt seinem musikalischen Ncpetitivnskursus über den
trojanischen Krieg zu Grunde gelegt hat, sind folgende. Erster Teil: Die Versuchung
des Heeres durch Agamemnon (1. Buch des Ilias), Aedilis Groll, der Tod des
Patroklos, Achill und Thetis (1., 16,. 18, und 19. Buch). Zweiter Teil: Hektor
und Andromache, Hektors Tod (6. und 22, Buch), Dritter Teil: Die Leichenfeier


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liebliche, venetianische Dialekt nicht auszurotten war, „in den, — nach Gsell-Fels — eine
Menge gröberer Konsonanten durch feinere Lebensauffassung abgeschliffen" sind.




Achill im Frack.

Durch die Konzcrtsäle der größern deutscheu Städte macht
diesen Winter ein neues Werk die Runde: Achilleus, Dichtung nach Motiven
der Ilias von Heinrich Bnlthanpt, für Solostimmen, Chor und Orchester kom-
ponirt von Max Bruch, Man fragt sich kopfschüttelnd, ob wir denn wirklich
im Zeitalter des vielgepriesenen Realismus leben, wenn so etwas uoch möglich ist,
daß" ein Achill im Frack und mit der weißen Halsbinde und eine Andromache im
seidnen, blumenbesteckten Schleppkleide auf dem Podium des Konzertsaales mit dem
Noteuhefte in der Hand stehen und uuter dem Taktgcwedel eiues Kapellmeisters
und demi Geigen-/Trompeten- und Paukenschall eines Orchesters mit hochroten
Köpfen und im Schweiße ihres Angesichts einem verehrlichen Publikum ihr Herze¬
leid vorsingen? Man könnte sagen: Ja, geschieht deun in einem Hundelöcher Ora¬
torium, dessen Stoff der alttestamentlichen Geschichte entnommen ist, etwas andres?
Gewiß nicht. Aber das ist eben ein Händelsches Oratorium, Händel lebte be¬
kanntlich von 1685 bis 1759. Wenn wir heute ein Händelsches Oratorium hören,
so nehmen wir es hin als ein Werk seiner Zeit, der Zeit der sogenannten Re¬
naissance — man hat ja nenerdings dieses Schlagwort von dein Gebiete der
bildenden Kunst auch auf die andern Kunstgebiete übertragen und dabei die Grenzen
der Zeit, die man darunter versteht, weit vorgeschoben bis in das achtzehnte Jahr¬
hundert hinein —, jener Zeit, in der die Kunst ihre Stoffe fast ausschließlich dem
Altertum, der biblischen Geschichte, der orientalischen Geschichte, dem Mythus, der
Sage und der Geschichte Griechenlands und Roms entnahm, und zwar in der
naivsten Begeisterung dafür entnahm. Wir nehmen heute ein solches Werk hin als
reine Musik, der Text ist uns ganz gleichgiltig, und ebenso gleichgiltig, daß der
Samson oder der Judas MacenbäuS da oben einen Frack anhat. Aber ein Oratorium
„Achill" — 1887! Wer will uns glauben machen, daß das ein Werk sein könne
aus dein Geiste unsrer Zeit heraus geboren, aus der geringsten innern Nötigung
entstanden? Johannes Scherr hatte unter den vielen garstigen Wörtern, die er
sich sür seinen Privatgebrauch zurechtgemacht hatte - nnchgebrnncht hat sie ihm
niemand — auch das Wort „Machenschaft." Nun wohl, „Machenschaft" sind alle
unsre archäologischen Romane gewesen, an denen doch anch das große Publikum
jetzt Gott sei Dank den Geschmack allmählich zu verlieren anfängt, „Machenschaft"
ist es anch, wenn heutzutage immer wieder derartige archäologische, Oratorien
aufgetischt werden. Das muß einmal offen ausgesprochen werden, ES würde ganz
unfaßbar sein, wie ein so geschmackvoller Literarhistoriker, Kritiker und Aesthetiker
wie Bulthanpt dazu kommt, deu Text zu so etwas zu „liefern," wenn man eben
nicht wüßte, wie es in solchen Dingen zugeht. Unsre großen Konzertinstitutc, unsre
Chorgesnngvereine, unsre akademischen Gesangvereine brauchen angeblich jeden Winter
eine sogenannte „Novität," Diesem Bedürfnis kommen unsre Herren Kapellmeister
entgegen, peinigen irgend jemand, der „Verse machen" kann, um einen Text, und
nun beginnt krampfhaft das Notenschreiben. „Machenschaft" ist alles.
"

Die „Motive, die Bulthanpt seinem musikalischen Ncpetitivnskursus über den
trojanischen Krieg zu Grunde gelegt hat, sind folgende. Erster Teil: Die Versuchung
des Heeres durch Agamemnon (1. Buch des Ilias), Aedilis Groll, der Tod des
Patroklos, Achill und Thetis (1., 16,. 18, und 19. Buch). Zweiter Teil: Hektor
und Andromache, Hektors Tod (6. und 22, Buch), Dritter Teil: Die Leichenfeier


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[0565] Kleinere Mitteilungen, liebliche, venetianische Dialekt nicht auszurotten war, „in den, — nach Gsell-Fels — eine Menge gröberer Konsonanten durch feinere Lebensauffassung abgeschliffen" sind. Achill im Frack. Durch die Konzcrtsäle der größern deutscheu Städte macht diesen Winter ein neues Werk die Runde: Achilleus, Dichtung nach Motiven der Ilias von Heinrich Bnlthanpt, für Solostimmen, Chor und Orchester kom- ponirt von Max Bruch, Man fragt sich kopfschüttelnd, ob wir denn wirklich im Zeitalter des vielgepriesenen Realismus leben, wenn so etwas uoch möglich ist, daß" ein Achill im Frack und mit der weißen Halsbinde und eine Andromache im seidnen, blumenbesteckten Schleppkleide auf dem Podium des Konzertsaales mit dem Noteuhefte in der Hand stehen und uuter dem Taktgcwedel eiues Kapellmeisters und demi Geigen-/Trompeten- und Paukenschall eines Orchesters mit hochroten Köpfen und im Schweiße ihres Angesichts einem verehrlichen Publikum ihr Herze¬ leid vorsingen? Man könnte sagen: Ja, geschieht deun in einem Hundelöcher Ora¬ torium, dessen Stoff der alttestamentlichen Geschichte entnommen ist, etwas andres? Gewiß nicht. Aber das ist eben ein Händelsches Oratorium, Händel lebte be¬ kanntlich von 1685 bis 1759. Wenn wir heute ein Händelsches Oratorium hören, so nehmen wir es hin als ein Werk seiner Zeit, der Zeit der sogenannten Re¬ naissance — man hat ja nenerdings dieses Schlagwort von dein Gebiete der bildenden Kunst auch auf die andern Kunstgebiete übertragen und dabei die Grenzen der Zeit, die man darunter versteht, weit vorgeschoben bis in das achtzehnte Jahr¬ hundert hinein —, jener Zeit, in der die Kunst ihre Stoffe fast ausschließlich dem Altertum, der biblischen Geschichte, der orientalischen Geschichte, dem Mythus, der Sage und der Geschichte Griechenlands und Roms entnahm, und zwar in der naivsten Begeisterung dafür entnahm. Wir nehmen heute ein solches Werk hin als reine Musik, der Text ist uns ganz gleichgiltig, und ebenso gleichgiltig, daß der Samson oder der Judas MacenbäuS da oben einen Frack anhat. Aber ein Oratorium „Achill" — 1887! Wer will uns glauben machen, daß das ein Werk sein könne aus dein Geiste unsrer Zeit heraus geboren, aus der geringsten innern Nötigung entstanden? Johannes Scherr hatte unter den vielen garstigen Wörtern, die er sich sür seinen Privatgebrauch zurechtgemacht hatte - nnchgebrnncht hat sie ihm niemand — auch das Wort „Machenschaft." Nun wohl, „Machenschaft" sind alle unsre archäologischen Romane gewesen, an denen doch anch das große Publikum jetzt Gott sei Dank den Geschmack allmählich zu verlieren anfängt, „Machenschaft" ist es anch, wenn heutzutage immer wieder derartige archäologische, Oratorien aufgetischt werden. Das muß einmal offen ausgesprochen werden, ES würde ganz unfaßbar sein, wie ein so geschmackvoller Literarhistoriker, Kritiker und Aesthetiker wie Bulthanpt dazu kommt, deu Text zu so etwas zu „liefern," wenn man eben nicht wüßte, wie es in solchen Dingen zugeht. Unsre großen Konzertinstitutc, unsre Chorgesnngvereine, unsre akademischen Gesangvereine brauchen angeblich jeden Winter eine sogenannte „Novität," Diesem Bedürfnis kommen unsre Herren Kapellmeister entgegen, peinigen irgend jemand, der „Verse machen" kann, um einen Text, und nun beginnt krampfhaft das Notenschreiben. „Machenschaft" ist alles. " Die „Motive, die Bulthanpt seinem musikalischen Ncpetitivnskursus über den trojanischen Krieg zu Grunde gelegt hat, sind folgende. Erster Teil: Die Versuchung des Heeres durch Agamemnon (1. Buch des Ilias), Aedilis Groll, der Tod des Patroklos, Achill und Thetis (1., 16,. 18, und 19. Buch). Zweiter Teil: Hektor und Andromache, Hektors Tod (6. und 22, Buch), Dritter Teil: Die Leichenfeier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/565>, abgerufen am 22.12.2024.