Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.Die Literatur und das verbrechen. Wütenden Geschreies und der maßlosen Verdächtigungen durch einen Teil der Es ist wahrlich Zeit, daß die Justiz sich von der Herrschaft der schönen Ludwig Luid. Die Literatur und das Verbrechen. in Zeitalter des Naturalismus in der Literatur, in dem die treue Jedenfalls ist die Klage über die verderbliche Einwirkung mancher Lektüre Die Literatur und das verbrechen. Wütenden Geschreies und der maßlosen Verdächtigungen durch einen Teil der Es ist wahrlich Zeit, daß die Justiz sich von der Herrschaft der schönen Ludwig Luid. Die Literatur und das Verbrechen. in Zeitalter des Naturalismus in der Literatur, in dem die treue Jedenfalls ist die Klage über die verderbliche Einwirkung mancher Lektüre <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0491" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200596"/> <fw type="header" place="top"> Die Literatur und das verbrechen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1521" prev="#ID_1520"> Wütenden Geschreies und der maßlosen Verdächtigungen durch einen Teil der<lb/> radikalen Presse musz dieser Ausspruch auch heute noch als zutreffend bezeichnet<lb/> werden, so erfreulich auch die Wahrnehmung ist, daß seit acht bis zehn Jahren<lb/> die Zahl derjenigen sich bedeutend vermehrt hat, welche glauben, der Zunahme<lb/> der Nohheitsverbrechen durch Verschärfung des Strafvollzuges entgegentreten zu<lb/> müssen. Nur durch rücksichtsloses Vorgehen in den drei im Vorstehenden be¬<lb/> zeichneten Richtungen läßt sich die Verbreitung der Körperverletzungen zurück¬<lb/> dämmen; kann sich der deutsche Staat und die deutsche Justiz nicht bald hierzu<lb/> aufraffen, dann werden wir noch Erfahrungen machen, die selbst den radikalsten<lb/> der Radikalen nicht gefallen würden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1522"> Es ist wahrlich Zeit, daß die Justiz sich von der Herrschaft der schönen<lb/> Phrasen, die von Humanität und Sentimentalität triefen, befreie und der Ver¬<lb/> brecherhorde gegenüber die volle Schärfe zur Anwendung bringe. Nicht ohne<lb/> Zögern hat der Gesetzgeber seinerzeit die geringsten Sätze der Strafen so weit<lb/> heruntergesetzt; er that dies im Vertrauen darauf, daß der Richter die Fälle<lb/> schon finden werde, in denen es weder der Gerechtigkeit noch dem öffentlichen<lb/> Wohle entspricht, von ihnen Gebrauch zu machen. Sollte er sich hierin geirrt<lb/> haben, sollte dieses Vertrauen unberechtigt gewesen sein und sollte es notwendig<lb/> werden, den dem freien richterlichen Ermessen gelassenen Spielraum einzuengen?</p><lb/> <note type="byline"> Ludwig Luid.</note><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Die Literatur und das Verbrechen.</head><lb/> <p xml:id="ID_1523"> in Zeitalter des Naturalismus in der Literatur, in dem die treue<lb/> Schilderung der Wirklichkeit ein Schlagwort geworden ist, in<lb/> dem das Leben jeden einzelnen Federstrich des dichterischen Werkes<lb/> diktiren soll, ist es eine interessante Frage, ob nicht umgekehrt<lb/> die Literatur das Leben beeinflusse, die Phantasie der Dichter<lb/> den Lesern die Antriebe zu ihren Handlungen eingebe, und ob nicht vielleicht<lb/> die Wirklichkeit ebenso sehr ein Spiegelbild der Literatur wie die Literatur eine<lb/> Nachahmung der Wirklichkeit sei.</p><lb/> <p xml:id="ID_1524" next="#ID_1525"> Jedenfalls ist die Klage über die verderbliche Einwirkung mancher Lektüre<lb/> alt. Und sie hat sich nicht immer allein auf die schlechte Tageswaare be¬<lb/> schränkt: auf die nervenreizenden Schauergeschichten, die seichten Darstellungen<lb/> lüsterner Vorgänge, auf die überspannten Fraucnzimmerromcmc, durch welche,<lb/> wie Max Nordau in seinen „Paradoxen" zu beweisen sucht, unsrer Jugend</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0491]
Die Literatur und das verbrechen.
Wütenden Geschreies und der maßlosen Verdächtigungen durch einen Teil der
radikalen Presse musz dieser Ausspruch auch heute noch als zutreffend bezeichnet
werden, so erfreulich auch die Wahrnehmung ist, daß seit acht bis zehn Jahren
die Zahl derjenigen sich bedeutend vermehrt hat, welche glauben, der Zunahme
der Nohheitsverbrechen durch Verschärfung des Strafvollzuges entgegentreten zu
müssen. Nur durch rücksichtsloses Vorgehen in den drei im Vorstehenden be¬
zeichneten Richtungen läßt sich die Verbreitung der Körperverletzungen zurück¬
dämmen; kann sich der deutsche Staat und die deutsche Justiz nicht bald hierzu
aufraffen, dann werden wir noch Erfahrungen machen, die selbst den radikalsten
der Radikalen nicht gefallen würden.
Es ist wahrlich Zeit, daß die Justiz sich von der Herrschaft der schönen
Phrasen, die von Humanität und Sentimentalität triefen, befreie und der Ver¬
brecherhorde gegenüber die volle Schärfe zur Anwendung bringe. Nicht ohne
Zögern hat der Gesetzgeber seinerzeit die geringsten Sätze der Strafen so weit
heruntergesetzt; er that dies im Vertrauen darauf, daß der Richter die Fälle
schon finden werde, in denen es weder der Gerechtigkeit noch dem öffentlichen
Wohle entspricht, von ihnen Gebrauch zu machen. Sollte er sich hierin geirrt
haben, sollte dieses Vertrauen unberechtigt gewesen sein und sollte es notwendig
werden, den dem freien richterlichen Ermessen gelassenen Spielraum einzuengen?
Ludwig Luid.
Die Literatur und das Verbrechen.
in Zeitalter des Naturalismus in der Literatur, in dem die treue
Schilderung der Wirklichkeit ein Schlagwort geworden ist, in
dem das Leben jeden einzelnen Federstrich des dichterischen Werkes
diktiren soll, ist es eine interessante Frage, ob nicht umgekehrt
die Literatur das Leben beeinflusse, die Phantasie der Dichter
den Lesern die Antriebe zu ihren Handlungen eingebe, und ob nicht vielleicht
die Wirklichkeit ebenso sehr ein Spiegelbild der Literatur wie die Literatur eine
Nachahmung der Wirklichkeit sei.
Jedenfalls ist die Klage über die verderbliche Einwirkung mancher Lektüre
alt. Und sie hat sich nicht immer allein auf die schlechte Tageswaare be¬
schränkt: auf die nervenreizenden Schauergeschichten, die seichten Darstellungen
lüsterner Vorgänge, auf die überspannten Fraucnzimmerromcmc, durch welche,
wie Max Nordau in seinen „Paradoxen" zu beweisen sucht, unsrer Jugend
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