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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die heilige Magdalena von Witscht.

Josef, sondern heißt wieder, wie aus Ironie des Schicksals, Josef Harun, Seine
Vergangenheit muß ihm wie ein geträumtes Märchen vorkommen. Nichts ist
ihm davon übrig geblieben. Selbst der Rosenkranz, mit dem er einst als ein¬
zigem Handwerkszeuge hantirte, ist beiseite gelegt, seitdem Josef den Hammer
wieder aufgenommen hat, und sogar die frommen Falten, die doch stereotyp
geworden schienen, hat sich der Exheilige mit bestem Erfolg wieder aus dem
Gesicht gestrichen. Er hat mit der Heiligkeit vollständig aufgeräumt, vermutlich
weil er es sür ein Sakrilegium hielt, seine Heiligkeit in der Schmiede rußig
zu macheu. Er geht sogar an Sonntagen wieder in die öffentlichen Weinstuben
zu seinen Mitbürgern, die in der Zeit seiner Heiligkeit garnicht mehr für ihn
da gewesen waren; nun behandelt er sie wieder wie seinesgleichen und ist sicht¬
lich froh, wenn die Gutmütiger thun, als sei das immer so gewesen. Auch
den Witschter Dialekt, den er infolge seiner vielen Reisen mannichfach mit Hoch¬
deutsch durchsetzt hatte, spricht er wieder ziemlich rein. Dabei sieht er nicht un¬
glücklich aus, er ist eine praktische Natur und weiß sich in alles zu schicken.
Vielleicht hält er aber seine Rolle noch nicht für ausgespielt.

Eine dritte hervorragende Persönlichkeit im Kreise dieser Helligkeiten war
der "Antiquar," der Schriftgelehrte der Gesellschaft, der die literarische Potenz
vertrat und die Sendschreiben an die Gläubigen verfassen mußte. Er schrieb
auch zwei weitere Bände zu Oschwalds "Mystischen Schriften" und zeigte in
seiner antiquarischen Bude den Madlenianern die heiligen Urschriften der vier
Evangelien und andre Reliquien ähnlicher Natur. Er besaß das höchste An¬
sehen in der Sekte, und manche achteten seine Heiligkeit sogar höher als die
der Madlene. Seine Residenz hatte er in einer großen Stadt Baierns.

Unter den sonstigen mit der heiligen Madlene zusammenhängenden Er¬
scheinungen erregten vor allem zwei Kinder großes Aufsehen. Diese waren auf
einmal da, und niemand, wenn nicht etwa die Madlenianer, erfuhr mit Gewißheit,
woher sie kamen, wohin sie gehörten. Dieser Umstand war aufregend. Dazu
kam noch, daß man sie kaum sah, höchstens einmal im Garten durch den Weiß-
dvrnhag hindurch, auf die Gasse kamen sie nicht. Gewöhnlich blieben sie nur
einige Tage, in geschlossenem Wagen kamen sie an, womöglich bei Nacht, und ebenso
fuhren sie wieder ab. Die Sache konnte sich kaum geheimnisvoller ausnehmen.

Es waren zwei Knaben, wie Prinzen gekleidet und schön, mit wahrhaften
Engelsköpfchen, der eine schwarz, der andre blondlockig. In Witscht war nie
etwas so schönes gesehen worden, ein weiterer Umstand, der die Phantasie
reizte. Als die beiden zum erstenmale auftauchten, war der eine ungefähr fünf,
der andre sechs Jahre alt. Gerüchte gingen genug über die schönen kleinen
Lvckcuköpfe. Bald sollten sie die Söhne des Antiquars, bald Kinder der jung-


Grenzbvwi I. 1837. 18
Die heilige Magdalena von Witscht.

Josef, sondern heißt wieder, wie aus Ironie des Schicksals, Josef Harun, Seine
Vergangenheit muß ihm wie ein geträumtes Märchen vorkommen. Nichts ist
ihm davon übrig geblieben. Selbst der Rosenkranz, mit dem er einst als ein¬
zigem Handwerkszeuge hantirte, ist beiseite gelegt, seitdem Josef den Hammer
wieder aufgenommen hat, und sogar die frommen Falten, die doch stereotyp
geworden schienen, hat sich der Exheilige mit bestem Erfolg wieder aus dem
Gesicht gestrichen. Er hat mit der Heiligkeit vollständig aufgeräumt, vermutlich
weil er es sür ein Sakrilegium hielt, seine Heiligkeit in der Schmiede rußig
zu macheu. Er geht sogar an Sonntagen wieder in die öffentlichen Weinstuben
zu seinen Mitbürgern, die in der Zeit seiner Heiligkeit garnicht mehr für ihn
da gewesen waren; nun behandelt er sie wieder wie seinesgleichen und ist sicht¬
lich froh, wenn die Gutmütiger thun, als sei das immer so gewesen. Auch
den Witschter Dialekt, den er infolge seiner vielen Reisen mannichfach mit Hoch¬
deutsch durchsetzt hatte, spricht er wieder ziemlich rein. Dabei sieht er nicht un¬
glücklich aus, er ist eine praktische Natur und weiß sich in alles zu schicken.
Vielleicht hält er aber seine Rolle noch nicht für ausgespielt.

Eine dritte hervorragende Persönlichkeit im Kreise dieser Helligkeiten war
der „Antiquar," der Schriftgelehrte der Gesellschaft, der die literarische Potenz
vertrat und die Sendschreiben an die Gläubigen verfassen mußte. Er schrieb
auch zwei weitere Bände zu Oschwalds „Mystischen Schriften" und zeigte in
seiner antiquarischen Bude den Madlenianern die heiligen Urschriften der vier
Evangelien und andre Reliquien ähnlicher Natur. Er besaß das höchste An¬
sehen in der Sekte, und manche achteten seine Heiligkeit sogar höher als die
der Madlene. Seine Residenz hatte er in einer großen Stadt Baierns.

Unter den sonstigen mit der heiligen Madlene zusammenhängenden Er¬
scheinungen erregten vor allem zwei Kinder großes Aufsehen. Diese waren auf
einmal da, und niemand, wenn nicht etwa die Madlenianer, erfuhr mit Gewißheit,
woher sie kamen, wohin sie gehörten. Dieser Umstand war aufregend. Dazu
kam noch, daß man sie kaum sah, höchstens einmal im Garten durch den Weiß-
dvrnhag hindurch, auf die Gasse kamen sie nicht. Gewöhnlich blieben sie nur
einige Tage, in geschlossenem Wagen kamen sie an, womöglich bei Nacht, und ebenso
fuhren sie wieder ab. Die Sache konnte sich kaum geheimnisvoller ausnehmen.

Es waren zwei Knaben, wie Prinzen gekleidet und schön, mit wahrhaften
Engelsköpfchen, der eine schwarz, der andre blondlockig. In Witscht war nie
etwas so schönes gesehen worden, ein weiterer Umstand, der die Phantasie
reizte. Als die beiden zum erstenmale auftauchten, war der eine ungefähr fünf,
der andre sechs Jahre alt. Gerüchte gingen genug über die schönen kleinen
Lvckcuköpfe. Bald sollten sie die Söhne des Antiquars, bald Kinder der jung-


Grenzbvwi I. 1837. 18
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/145>, abgerufen am 22.12.2024.