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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Antike Märchen in deutschem Gewände.
von Adolf Thiinme.

le Volksdichtung blüht und gedeiht auf derjenigen Bildungsstufe,
auf welcher das geschriebene Wort uoch kaum gekannt und gar-
nicht vermißt wird. Jeder Einzelne im Volke trägt dazu bei, daß
diese Dichtung, die nur im mündlichen Vortrage lebt, gepflegt
und gefördert wird. Eben darum sind uns keine Namen der
Dichter überliefert. Nichts ist aber unrichtiger als die Vorstellung, diese Volks-'
Sänger müßten aus dein Pöbel gewesen sein oder für den Pöbel gesungen haben.
Damals, im Kindesalter der Völker, hatte die Poesie noch die Stellung inne,
die ihr gebührt: sie wohnte in jedes Menschen Brust, und man empfand sie
als das, was sie sein soll: als die natürliche und eigentümliche Sprache des
menschlichen Herzens.

Als nun aber mit der zunehmenden Kultur das Schriftentum eindrang,
so wandten sich die vornehmen und kräftigen Geister des Volkes diesem z";
und so kommt es, daß die Volkspoesie dann mehr und mehr schwach und klein¬
laut wird. Bei dem deutschen Volke aber kam noch ein andrer Umstand hinzu,
der vernichtend einwirkte auf den alten heidnischen Gesang: die Einführung der
neuen, der christlichen Religion. Mit eiligen Schlägen zertrümmerte" die fremden
Missionare die altheiliger Tempel und Säulen der Deutschen, und nicht minder
eifrig zerschlugen sie das Harfenspiel der alten Barden, das vordem so gewaltig
durch alle deutschen Gaue erklungen war.

Ein Teil des alten Heldengesanges rettete sich dadurch, daß er ein christ¬
liches Mäntelchen umthat, obwohl der Kern echt heidnisch blieb. So ist uns
das Nibelungenlied erhalten. Ein andrer Teil flüchtete sich in unzugängliche
Wälder und abgelegene Hütten, wo er unter dem Rauschen der Eichen und
Linden oder am Herdfeuer, begleitet vom Schnurren emsiger Spindeln, weiter
lebte, Jahrhunderte laug, bis auf den heutigen Tag. Freilich gehören feine
Sinne dazu, diesen verborgenen Sang wahrzunehmen. Er enthält nnr noch
eine unvollständige Melodie, oft nur einzelne Töne, wie von einer einsam übrig¬
gebliebenen Saite des alten, vollen, zerschlagenen Harfenspiels. Das sind die
Sagen, die Märchen des deutschen Volkes.

In einem kleinen, stillen Dorfe Hessens lebte am Anfang dieses Jahr¬
hunderts eine alte Bäuerin, zu deren Füßen haben die Brüder Grimm gesessen
und den Erzählungen der Greisin gelauscht, die ihre Märchen wie eine Priesterin
altheidnischen Volkstums als etwas Geheimes und Heiliges, Unveränderliches


Antike Märchen in deutschem Gewände.
von Adolf Thiinme.

le Volksdichtung blüht und gedeiht auf derjenigen Bildungsstufe,
auf welcher das geschriebene Wort uoch kaum gekannt und gar-
nicht vermißt wird. Jeder Einzelne im Volke trägt dazu bei, daß
diese Dichtung, die nur im mündlichen Vortrage lebt, gepflegt
und gefördert wird. Eben darum sind uns keine Namen der
Dichter überliefert. Nichts ist aber unrichtiger als die Vorstellung, diese Volks-'
Sänger müßten aus dein Pöbel gewesen sein oder für den Pöbel gesungen haben.
Damals, im Kindesalter der Völker, hatte die Poesie noch die Stellung inne,
die ihr gebührt: sie wohnte in jedes Menschen Brust, und man empfand sie
als das, was sie sein soll: als die natürliche und eigentümliche Sprache des
menschlichen Herzens.

Als nun aber mit der zunehmenden Kultur das Schriftentum eindrang,
so wandten sich die vornehmen und kräftigen Geister des Volkes diesem z»;
und so kommt es, daß die Volkspoesie dann mehr und mehr schwach und klein¬
laut wird. Bei dem deutschen Volke aber kam noch ein andrer Umstand hinzu,
der vernichtend einwirkte auf den alten heidnischen Gesang: die Einführung der
neuen, der christlichen Religion. Mit eiligen Schlägen zertrümmerte» die fremden
Missionare die altheiliger Tempel und Säulen der Deutschen, und nicht minder
eifrig zerschlugen sie das Harfenspiel der alten Barden, das vordem so gewaltig
durch alle deutschen Gaue erklungen war.

Ein Teil des alten Heldengesanges rettete sich dadurch, daß er ein christ¬
liches Mäntelchen umthat, obwohl der Kern echt heidnisch blieb. So ist uns
das Nibelungenlied erhalten. Ein andrer Teil flüchtete sich in unzugängliche
Wälder und abgelegene Hütten, wo er unter dem Rauschen der Eichen und
Linden oder am Herdfeuer, begleitet vom Schnurren emsiger Spindeln, weiter
lebte, Jahrhunderte laug, bis auf den heutigen Tag. Freilich gehören feine
Sinne dazu, diesen verborgenen Sang wahrzunehmen. Er enthält nnr noch
eine unvollständige Melodie, oft nur einzelne Töne, wie von einer einsam übrig¬
gebliebenen Saite des alten, vollen, zerschlagenen Harfenspiels. Das sind die
Sagen, die Märchen des deutschen Volkes.

In einem kleinen, stillen Dorfe Hessens lebte am Anfang dieses Jahr¬
hunderts eine alte Bäuerin, zu deren Füßen haben die Brüder Grimm gesessen
und den Erzählungen der Greisin gelauscht, die ihre Märchen wie eine Priesterin
altheidnischen Volkstums als etwas Geheimes und Heiliges, Unveränderliches


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[0030] Antike Märchen in deutschem Gewände. von Adolf Thiinme. le Volksdichtung blüht und gedeiht auf derjenigen Bildungsstufe, auf welcher das geschriebene Wort uoch kaum gekannt und gar- nicht vermißt wird. Jeder Einzelne im Volke trägt dazu bei, daß diese Dichtung, die nur im mündlichen Vortrage lebt, gepflegt und gefördert wird. Eben darum sind uns keine Namen der Dichter überliefert. Nichts ist aber unrichtiger als die Vorstellung, diese Volks-' Sänger müßten aus dein Pöbel gewesen sein oder für den Pöbel gesungen haben. Damals, im Kindesalter der Völker, hatte die Poesie noch die Stellung inne, die ihr gebührt: sie wohnte in jedes Menschen Brust, und man empfand sie als das, was sie sein soll: als die natürliche und eigentümliche Sprache des menschlichen Herzens. Als nun aber mit der zunehmenden Kultur das Schriftentum eindrang, so wandten sich die vornehmen und kräftigen Geister des Volkes diesem z»; und so kommt es, daß die Volkspoesie dann mehr und mehr schwach und klein¬ laut wird. Bei dem deutschen Volke aber kam noch ein andrer Umstand hinzu, der vernichtend einwirkte auf den alten heidnischen Gesang: die Einführung der neuen, der christlichen Religion. Mit eiligen Schlägen zertrümmerte» die fremden Missionare die altheiliger Tempel und Säulen der Deutschen, und nicht minder eifrig zerschlugen sie das Harfenspiel der alten Barden, das vordem so gewaltig durch alle deutschen Gaue erklungen war. Ein Teil des alten Heldengesanges rettete sich dadurch, daß er ein christ¬ liches Mäntelchen umthat, obwohl der Kern echt heidnisch blieb. So ist uns das Nibelungenlied erhalten. Ein andrer Teil flüchtete sich in unzugängliche Wälder und abgelegene Hütten, wo er unter dem Rauschen der Eichen und Linden oder am Herdfeuer, begleitet vom Schnurren emsiger Spindeln, weiter lebte, Jahrhunderte laug, bis auf den heutigen Tag. Freilich gehören feine Sinne dazu, diesen verborgenen Sang wahrzunehmen. Er enthält nnr noch eine unvollständige Melodie, oft nur einzelne Töne, wie von einer einsam übrig¬ gebliebenen Saite des alten, vollen, zerschlagenen Harfenspiels. Das sind die Sagen, die Märchen des deutschen Volkes. In einem kleinen, stillen Dorfe Hessens lebte am Anfang dieses Jahr¬ hunderts eine alte Bäuerin, zu deren Füßen haben die Brüder Grimm gesessen und den Erzählungen der Greisin gelauscht, die ihre Märchen wie eine Priesterin altheidnischen Volkstums als etwas Geheimes und Heiliges, Unveränderliches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/30>, abgerufen am 22.07.2024.