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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Man könnte sagen, der spezifisch nationale Standpunkt sei ein sehr be¬
schränkter; je weiter der Buch desto größer der Geist. Gewiß! Aber die Vor¬
aussetzung, daß das moderne Geistesleben nur auf dem Voden der antiken
Kultur recht gedeihen könne, ist ein noch viel beschränkterer Standpunkt. Die
Neuhumanisten meinten Kosmopoliten zu sein, waren aber in der That die ärgsten
Partikularisteu, die es geben kann.

Der Kampf gegen die griechisch-romanische Kultur ist der Hauptsache nach
beendet. Mit leichtem Flügelschlage wird der deutsche Aar den letzten fremden
Staub abschütteln. Schon seit den Freiheitskriegen ist das Nationale wesentlich
im Vorteile. 1848, 1866. 1870 sind Knotenpunkte des siegreichen Vordringens,
die Sänger der Freiheitskriege, die schwäbische Dichterschule, die Dichter der
Gegenwart sind die Mittelglieder. Es ist anzunehmen, daß der alte Streit nicht
wieder beginnen wird. Das Nationalitätsprinzip kommt mehr und mehr zur
Geltung, das Fremde wird ausgestoßen. Wo sich noch Sprachinseln in großen
Volksgebieteu vorfinde:?, da müssen sie sich dem Ganzen anschließen, oder sie
werden bezwungen; wo sich verschiedne Nationalitäten die Wage halten, da ent¬
brennt der Wettstreit.

Die meisten Völker Europas haben einen Kampf mit fremden Kulturen zu
bestehen gehabt, keins aber hat ihn so tief im innersten Geistesleben durchgeführt
wie das deutsche. Darum empfindet es nun auch doppelt das Hochgefühl des
nationalen Bewußtseins.




Die religiöse Malerei der Gegenwart.
i.
ZVereschagin und die Berliner Iubilänmsansstellnng.

i
n Thatsache, daß seit fünfzehn Jahren deutsche, österreichisch-nngci-
rische und slawische Künstler bestrebt sind, den Gestalten der christ¬
lichen Legende oder der biblischen Überlieferung eine neue, der rea-
listisch-naturalistischen Kunstanschauung unsrer Tage entsprechende
Erscheinungsform zu geben, läßt sich eher zu Gunsten als zum
Nachteile unsrer als materialistisch verrufenen Zeit auslegen. Daß unsre
Kunst sich eine geraume Weile von den höchsten idealen Zielen abgewendet hatte,
war nicht ein Zeichen geistiger Verarmung und Verflachung, sondern nur eine von
den Folgen der Opposition gegen eine erschöpfte Kunstrichtung, welche die reli-


Man könnte sagen, der spezifisch nationale Standpunkt sei ein sehr be¬
schränkter; je weiter der Buch desto größer der Geist. Gewiß! Aber die Vor¬
aussetzung, daß das moderne Geistesleben nur auf dem Voden der antiken
Kultur recht gedeihen könne, ist ein noch viel beschränkterer Standpunkt. Die
Neuhumanisten meinten Kosmopoliten zu sein, waren aber in der That die ärgsten
Partikularisteu, die es geben kann.

Der Kampf gegen die griechisch-romanische Kultur ist der Hauptsache nach
beendet. Mit leichtem Flügelschlage wird der deutsche Aar den letzten fremden
Staub abschütteln. Schon seit den Freiheitskriegen ist das Nationale wesentlich
im Vorteile. 1848, 1866. 1870 sind Knotenpunkte des siegreichen Vordringens,
die Sänger der Freiheitskriege, die schwäbische Dichterschule, die Dichter der
Gegenwart sind die Mittelglieder. Es ist anzunehmen, daß der alte Streit nicht
wieder beginnen wird. Das Nationalitätsprinzip kommt mehr und mehr zur
Geltung, das Fremde wird ausgestoßen. Wo sich noch Sprachinseln in großen
Volksgebieteu vorfinde:?, da müssen sie sich dem Ganzen anschließen, oder sie
werden bezwungen; wo sich verschiedne Nationalitäten die Wage halten, da ent¬
brennt der Wettstreit.

Die meisten Völker Europas haben einen Kampf mit fremden Kulturen zu
bestehen gehabt, keins aber hat ihn so tief im innersten Geistesleben durchgeführt
wie das deutsche. Darum empfindet es nun auch doppelt das Hochgefühl des
nationalen Bewußtseins.




Die religiöse Malerei der Gegenwart.
i.
ZVereschagin und die Berliner Iubilänmsansstellnng.

i
n Thatsache, daß seit fünfzehn Jahren deutsche, österreichisch-nngci-
rische und slawische Künstler bestrebt sind, den Gestalten der christ¬
lichen Legende oder der biblischen Überlieferung eine neue, der rea-
listisch-naturalistischen Kunstanschauung unsrer Tage entsprechende
Erscheinungsform zu geben, läßt sich eher zu Gunsten als zum
Nachteile unsrer als materialistisch verrufenen Zeit auslegen. Daß unsre
Kunst sich eine geraume Weile von den höchsten idealen Zielen abgewendet hatte,
war nicht ein Zeichen geistiger Verarmung und Verflachung, sondern nur eine von
den Folgen der Opposition gegen eine erschöpfte Kunstrichtung, welche die reli-


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[0471] Man könnte sagen, der spezifisch nationale Standpunkt sei ein sehr be¬ schränkter; je weiter der Buch desto größer der Geist. Gewiß! Aber die Vor¬ aussetzung, daß das moderne Geistesleben nur auf dem Voden der antiken Kultur recht gedeihen könne, ist ein noch viel beschränkterer Standpunkt. Die Neuhumanisten meinten Kosmopoliten zu sein, waren aber in der That die ärgsten Partikularisteu, die es geben kann. Der Kampf gegen die griechisch-romanische Kultur ist der Hauptsache nach beendet. Mit leichtem Flügelschlage wird der deutsche Aar den letzten fremden Staub abschütteln. Schon seit den Freiheitskriegen ist das Nationale wesentlich im Vorteile. 1848, 1866. 1870 sind Knotenpunkte des siegreichen Vordringens, die Sänger der Freiheitskriege, die schwäbische Dichterschule, die Dichter der Gegenwart sind die Mittelglieder. Es ist anzunehmen, daß der alte Streit nicht wieder beginnen wird. Das Nationalitätsprinzip kommt mehr und mehr zur Geltung, das Fremde wird ausgestoßen. Wo sich noch Sprachinseln in großen Volksgebieteu vorfinde:?, da müssen sie sich dem Ganzen anschließen, oder sie werden bezwungen; wo sich verschiedne Nationalitäten die Wage halten, da ent¬ brennt der Wettstreit. Die meisten Völker Europas haben einen Kampf mit fremden Kulturen zu bestehen gehabt, keins aber hat ihn so tief im innersten Geistesleben durchgeführt wie das deutsche. Darum empfindet es nun auch doppelt das Hochgefühl des nationalen Bewußtseins. Die religiöse Malerei der Gegenwart. i. ZVereschagin und die Berliner Iubilänmsansstellnng. i n Thatsache, daß seit fünfzehn Jahren deutsche, österreichisch-nngci- rische und slawische Künstler bestrebt sind, den Gestalten der christ¬ lichen Legende oder der biblischen Überlieferung eine neue, der rea- listisch-naturalistischen Kunstanschauung unsrer Tage entsprechende Erscheinungsform zu geben, läßt sich eher zu Gunsten als zum Nachteile unsrer als materialistisch verrufenen Zeit auslegen. Daß unsre Kunst sich eine geraume Weile von den höchsten idealen Zielen abgewendet hatte, war nicht ein Zeichen geistiger Verarmung und Verflachung, sondern nur eine von den Folgen der Opposition gegen eine erschöpfte Kunstrichtung, welche die reli-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/471>, abgerufen am 27.12.2024.