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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische schule in Deutschland.
4.

er dänische Dichter Andersen erzählt in einem seiner Märchen
von einem Satansspiegcl, der vom Himmel herab in Trümmer
und Splitter geschlagen wird. Die Splitter stieben weit auf
Erden umher, und wem einer ins Auge geflogen, der ist ver¬
dammt, alle Dinge im schiefsten oder übelsten Lichte zu sehen.
Ein gutes Teil dieser im Weltraume zerstreuten Splitter muß neuerdings auf
Deutschland herabgefallen und in die Gehwerkzeuge der jungen naturalistischen
Poeten geraten sein. Mit dem Splitter im Auge verbindet sich außerdem die
angenehme Überzeugung, daß alle der pessimistisch-naturalistischen Schule nicht
angehörigen, welche doch zu sehen und darzustellen unternehmen, nicht nur Balken
im Auge, sondern auch Bretter vor dem Kopfe haben, also überhaupt garnicht
mitreden dürfen. In einzelnen Fällen mag hinter all den großen Worten eben
so wenig unerschütterliche Überzeugung als wahrhaftes Talent stehen, in den
meisten haben wir es ganz sicher mit dem Fanatismus zu thun, welcher seit
lange keine andre Wahrheit und nun auch keine andre Natur keimt als die
seine. Wenn Zola als sein Ideal "och kürzlich wieder verkündete: "Ein einziges
Werk, in welchem mau versucht, das ganze All darzustellen, die leblosen Dinge,
die Tiere und Menschen, eine unermeßliche Arche Noah. Aber nicht uach der
Vorschrift der philosophischen Lehrbücher, nicht nach der thörichten Rangordnung,
in welcher unser eitler Stolz sich gefällt -- nein, nach dem freien Strome des
universellen Seins, eine Welt, in der wir selbst nur ein Bruchteil sind; wo
der Hund, welcher über den Weg läuft, und selbst der Stein auf der Straße
uus vervollständigt und erklärt; das große All mit einem Worte, ohne hoch
und niedrig, ohne schmutzig und rein, so wie es ist und besteht" (Zola, I,'azn?ro),
so wird er freilich telum überzeugen, der die Darstellung des Menschen, und
zwar des individuellen, aus der Masse hcrausgehobneu Menschen, als die Haupt¬
aufgabe der Dichtung ansieht. Doch wird ihm jeder zugestehen, daß der Ge¬
sichtspunkt wenigstens ein großer, der Versuch ein kühner ist, und man wird
sich am Ende damit trösten können, daß in der "unermeßlichen Arche Noah"
die edeln und schönen Erscheinungen (wenn auch ohne alle Bevorzugung) neben
den widrigen, kriechende", häßlichen und giftigen ihren Platz finden müssen.
Anders sieht es bei uusern deutscheu Naturalisten. Sie sehen einfach nichts,
wollen nichts sehen als jene Erscheinungen des Massen- oder des Einzellebens,
welche aus dem Schmutz aufgegriffen werden können, sie wollen "das Laster


Die naturalistische schule in Deutschland.
4.

er dänische Dichter Andersen erzählt in einem seiner Märchen
von einem Satansspiegcl, der vom Himmel herab in Trümmer
und Splitter geschlagen wird. Die Splitter stieben weit auf
Erden umher, und wem einer ins Auge geflogen, der ist ver¬
dammt, alle Dinge im schiefsten oder übelsten Lichte zu sehen.
Ein gutes Teil dieser im Weltraume zerstreuten Splitter muß neuerdings auf
Deutschland herabgefallen und in die Gehwerkzeuge der jungen naturalistischen
Poeten geraten sein. Mit dem Splitter im Auge verbindet sich außerdem die
angenehme Überzeugung, daß alle der pessimistisch-naturalistischen Schule nicht
angehörigen, welche doch zu sehen und darzustellen unternehmen, nicht nur Balken
im Auge, sondern auch Bretter vor dem Kopfe haben, also überhaupt garnicht
mitreden dürfen. In einzelnen Fällen mag hinter all den großen Worten eben
so wenig unerschütterliche Überzeugung als wahrhaftes Talent stehen, in den
meisten haben wir es ganz sicher mit dem Fanatismus zu thun, welcher seit
lange keine andre Wahrheit und nun auch keine andre Natur keimt als die
seine. Wenn Zola als sein Ideal »och kürzlich wieder verkündete: „Ein einziges
Werk, in welchem mau versucht, das ganze All darzustellen, die leblosen Dinge,
die Tiere und Menschen, eine unermeßliche Arche Noah. Aber nicht uach der
Vorschrift der philosophischen Lehrbücher, nicht nach der thörichten Rangordnung,
in welcher unser eitler Stolz sich gefällt — nein, nach dem freien Strome des
universellen Seins, eine Welt, in der wir selbst nur ein Bruchteil sind; wo
der Hund, welcher über den Weg läuft, und selbst der Stein auf der Straße
uus vervollständigt und erklärt; das große All mit einem Worte, ohne hoch
und niedrig, ohne schmutzig und rein, so wie es ist und besteht" (Zola, I,'azn?ro),
so wird er freilich telum überzeugen, der die Darstellung des Menschen, und
zwar des individuellen, aus der Masse hcrausgehobneu Menschen, als die Haupt¬
aufgabe der Dichtung ansieht. Doch wird ihm jeder zugestehen, daß der Ge¬
sichtspunkt wenigstens ein großer, der Versuch ein kühner ist, und man wird
sich am Ende damit trösten können, daß in der „unermeßlichen Arche Noah"
die edeln und schönen Erscheinungen (wenn auch ohne alle Bevorzugung) neben
den widrigen, kriechende», häßlichen und giftigen ihren Platz finden müssen.
Anders sieht es bei uusern deutscheu Naturalisten. Sie sehen einfach nichts,
wollen nichts sehen als jene Erscheinungen des Massen- oder des Einzellebens,
welche aus dem Schmutz aufgegriffen werden können, sie wollen „das Laster


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[0426] Die naturalistische schule in Deutschland. 4. er dänische Dichter Andersen erzählt in einem seiner Märchen von einem Satansspiegcl, der vom Himmel herab in Trümmer und Splitter geschlagen wird. Die Splitter stieben weit auf Erden umher, und wem einer ins Auge geflogen, der ist ver¬ dammt, alle Dinge im schiefsten oder übelsten Lichte zu sehen. Ein gutes Teil dieser im Weltraume zerstreuten Splitter muß neuerdings auf Deutschland herabgefallen und in die Gehwerkzeuge der jungen naturalistischen Poeten geraten sein. Mit dem Splitter im Auge verbindet sich außerdem die angenehme Überzeugung, daß alle der pessimistisch-naturalistischen Schule nicht angehörigen, welche doch zu sehen und darzustellen unternehmen, nicht nur Balken im Auge, sondern auch Bretter vor dem Kopfe haben, also überhaupt garnicht mitreden dürfen. In einzelnen Fällen mag hinter all den großen Worten eben so wenig unerschütterliche Überzeugung als wahrhaftes Talent stehen, in den meisten haben wir es ganz sicher mit dem Fanatismus zu thun, welcher seit lange keine andre Wahrheit und nun auch keine andre Natur keimt als die seine. Wenn Zola als sein Ideal »och kürzlich wieder verkündete: „Ein einziges Werk, in welchem mau versucht, das ganze All darzustellen, die leblosen Dinge, die Tiere und Menschen, eine unermeßliche Arche Noah. Aber nicht uach der Vorschrift der philosophischen Lehrbücher, nicht nach der thörichten Rangordnung, in welcher unser eitler Stolz sich gefällt — nein, nach dem freien Strome des universellen Seins, eine Welt, in der wir selbst nur ein Bruchteil sind; wo der Hund, welcher über den Weg läuft, und selbst der Stein auf der Straße uus vervollständigt und erklärt; das große All mit einem Worte, ohne hoch und niedrig, ohne schmutzig und rein, so wie es ist und besteht" (Zola, I,'azn?ro), so wird er freilich telum überzeugen, der die Darstellung des Menschen, und zwar des individuellen, aus der Masse hcrausgehobneu Menschen, als die Haupt¬ aufgabe der Dichtung ansieht. Doch wird ihm jeder zugestehen, daß der Ge¬ sichtspunkt wenigstens ein großer, der Versuch ein kühner ist, und man wird sich am Ende damit trösten können, daß in der „unermeßlichen Arche Noah" die edeln und schönen Erscheinungen (wenn auch ohne alle Bevorzugung) neben den widrigen, kriechende», häßlichen und giftigen ihren Platz finden müssen. Anders sieht es bei uusern deutscheu Naturalisten. Sie sehen einfach nichts, wollen nichts sehen als jene Erscheinungen des Massen- oder des Einzellebens, welche aus dem Schmutz aufgegriffen werden können, sie wollen „das Laster

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/426>, abgerufen am 27.12.2024.