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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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In elfter, vielleicht zwölfter stunde.

assandra-Rufe sind sehr i" Mißkredit gekommen. Die Zeit ist spöt¬
tisch und skeptisch angelegt, und mit pathetischen Warnungen und
weitauSsehendeu Betrachtungen ist dem heutigen Publikum schwer
beizukommen. Aber man muß doch sagen: Kassandra hatte nicht
nur Recht, sondern sie konnte sich zur Begründung ihrer Warnungen
ans Dinge stützen, angesichts deren sie eigentlich garnicht der Prophetengabe,
sondern nur des "gesunden Menschenverstandes" bedürfte, um über die Blindheit
der Troer zu jammern; und wen" ein künftiger Dichter für unsre gegenwärtige
soziale Lage eine Kassandra-Figur schaffen will, so wird es derselben an innerer
Wahrscheinlichkeit durchaus nicht fehlen. Werden wir die soziale Revolution
haben? werden wir ihr widerstehen können? Das sind die großen Fragen des
Tages. Die erstere muß, darüber sind wohl alle Urteilsfähigen einig, ohne
weiteres bejaht werden. Die zweite -- vor dem, der sie mit voller Kenntnis
der obwaltenden Verhältnisse entschieden zu bejahen wagt, will ich Respekt haben,
muß mir aber dennoch mein Urteil vorbehalten. Meine eigne Antwort würde
lauten: Ich weiß es nicht! Auf pathetische Fragen mit dieser trivialen Antwort
zu kommen, mag recht komisch sein, aber ich kann versichern, daß mir bei der
Sache durchaus nicht komisch zu Mute ist.

So gottverlassen, das Militär und dessen "unerschütterliche Disziplin" ster
eine unter allen Umständen ausreichende Schutzwehr zu halten, wird wohl
unter den Lesern der Grenzboten nicht ein einziger sein. So oft auch das
Wort Talleyrands schon zitirt (und ohne Zweifel auch manchmal mißbraucht)
worden ist, so anwendbar bleibt es: Bajonnette sind eine treffliche Sache, nur
setzen kann mau sich nicht ans sie. Die nämlichen epidemischen Gifte, welche
der Volksmasse das langegehegte Respektsgefühl vor der Obrigkeit und die Furcht


Grenzboten ir. 1S8L. -31


In elfter, vielleicht zwölfter stunde.

assandra-Rufe sind sehr i» Mißkredit gekommen. Die Zeit ist spöt¬
tisch und skeptisch angelegt, und mit pathetischen Warnungen und
weitauSsehendeu Betrachtungen ist dem heutigen Publikum schwer
beizukommen. Aber man muß doch sagen: Kassandra hatte nicht
nur Recht, sondern sie konnte sich zur Begründung ihrer Warnungen
ans Dinge stützen, angesichts deren sie eigentlich garnicht der Prophetengabe,
sondern nur des „gesunden Menschenverstandes" bedürfte, um über die Blindheit
der Troer zu jammern; und wen» ein künftiger Dichter für unsre gegenwärtige
soziale Lage eine Kassandra-Figur schaffen will, so wird es derselben an innerer
Wahrscheinlichkeit durchaus nicht fehlen. Werden wir die soziale Revolution
haben? werden wir ihr widerstehen können? Das sind die großen Fragen des
Tages. Die erstere muß, darüber sind wohl alle Urteilsfähigen einig, ohne
weiteres bejaht werden. Die zweite — vor dem, der sie mit voller Kenntnis
der obwaltenden Verhältnisse entschieden zu bejahen wagt, will ich Respekt haben,
muß mir aber dennoch mein Urteil vorbehalten. Meine eigne Antwort würde
lauten: Ich weiß es nicht! Auf pathetische Fragen mit dieser trivialen Antwort
zu kommen, mag recht komisch sein, aber ich kann versichern, daß mir bei der
Sache durchaus nicht komisch zu Mute ist.

So gottverlassen, das Militär und dessen „unerschütterliche Disziplin" ster
eine unter allen Umständen ausreichende Schutzwehr zu halten, wird wohl
unter den Lesern der Grenzboten nicht ein einziger sein. So oft auch das
Wort Talleyrands schon zitirt (und ohne Zweifel auch manchmal mißbraucht)
worden ist, so anwendbar bleibt es: Bajonnette sind eine treffliche Sache, nur
setzen kann mau sich nicht ans sie. Die nämlichen epidemischen Gifte, welche
der Volksmasse das langegehegte Respektsgefühl vor der Obrigkeit und die Furcht


Grenzboten ir. 1S8L. -31
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[0249] [Abbildung] In elfter, vielleicht zwölfter stunde. assandra-Rufe sind sehr i» Mißkredit gekommen. Die Zeit ist spöt¬ tisch und skeptisch angelegt, und mit pathetischen Warnungen und weitauSsehendeu Betrachtungen ist dem heutigen Publikum schwer beizukommen. Aber man muß doch sagen: Kassandra hatte nicht nur Recht, sondern sie konnte sich zur Begründung ihrer Warnungen ans Dinge stützen, angesichts deren sie eigentlich garnicht der Prophetengabe, sondern nur des „gesunden Menschenverstandes" bedürfte, um über die Blindheit der Troer zu jammern; und wen» ein künftiger Dichter für unsre gegenwärtige soziale Lage eine Kassandra-Figur schaffen will, so wird es derselben an innerer Wahrscheinlichkeit durchaus nicht fehlen. Werden wir die soziale Revolution haben? werden wir ihr widerstehen können? Das sind die großen Fragen des Tages. Die erstere muß, darüber sind wohl alle Urteilsfähigen einig, ohne weiteres bejaht werden. Die zweite — vor dem, der sie mit voller Kenntnis der obwaltenden Verhältnisse entschieden zu bejahen wagt, will ich Respekt haben, muß mir aber dennoch mein Urteil vorbehalten. Meine eigne Antwort würde lauten: Ich weiß es nicht! Auf pathetische Fragen mit dieser trivialen Antwort zu kommen, mag recht komisch sein, aber ich kann versichern, daß mir bei der Sache durchaus nicht komisch zu Mute ist. So gottverlassen, das Militär und dessen „unerschütterliche Disziplin" ster eine unter allen Umständen ausreichende Schutzwehr zu halten, wird wohl unter den Lesern der Grenzboten nicht ein einziger sein. So oft auch das Wort Talleyrands schon zitirt (und ohne Zweifel auch manchmal mißbraucht) worden ist, so anwendbar bleibt es: Bajonnette sind eine treffliche Sache, nur setzen kann mau sich nicht ans sie. Die nämlichen epidemischen Gifte, welche der Volksmasse das langegehegte Respektsgefühl vor der Obrigkeit und die Furcht Grenzboten ir. 1S8L. -31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/249>, abgerufen am 27.06.2024.