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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

welche weder durch die Gleichgiltigkeit mit der Hoffnung auf einen Selbstcmsglcich
der Kräfte, noch durch die Zuversicht auf die rohe Gewalt der Bajonette be¬
seitigt werden kann. Hier gilt es, durch positive Maßregeln wirkliche Übelstände
zu beseitigen und eine Versöhnung zwischen dem Kapitalismus und der Arbeit
herbeizuführen. Mit Mühe und Not ist es den verbündeten Regierungen, ange¬
feuert durch die rastlose Energie des Kaisers und seines Kanzlers, gelungen, die ersten
Schritte auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung zu machen, ihre Fortführung
ist aber durch das Verhalten der Neichstagsmehrheit in Frage gestellt, die dabei
freilich, wenn auch unbeabsichtigt, den Parlamentarismus selbst aufs Spiel setzt.

Heute denkt selbst der verbissenste Reaktionär nicht daran, einer Rückkehr
zum absoluten Staate das Wort zu reden. Wie sehr die Regierung selbst auf
die Teilnahme des Volkes an den öffentlichen Geschäften Wert legt, beweisen
die verschiedensten Maßregeln, wie die Ausdehnung der Selbstverwaltung, die
Schaffung eines Volkswirtschaftsrates, die Beteiligung der Arbeiter bei der
Kranken- und Unfallversicherung, die Zuziehung der Interessenten bei wirtschaft¬
lichen Enqueten u, dergl. in. Haben wir aber aus dem Fiasko des parlamen¬
tarische" Regimes gesehen, daß der Parlamentarismus in seiner heutigen Ge¬
staltung noch keineswegs das letzte Ziel politischer Wohlfahrt darstellt, und daß
selbst im Konstitutionalismus die berechtigtsten Wünsche des Volkes nicht zur
Befriedigung kommen können, so müssen wir uns sagen, daß wir noch bei
weitem nicht zu dem Abschlüsse in unsrer elementarsten politischen Entwicklung
gelangt sind, die den Staat ermöglicht, auch nur der dringendsten Sorgen,
welche an ihn herantreten, Herr zu werden.

Wir würden politische Quacksalberei treiben, wenn wir mit neuen theore¬
tischen Rezepten zur Beseitigung des Übels kommen wollten. Für uns genügt
es zur Zeit, auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die unserm Staatsleben
drohen, Sache jedes Einzelnen ist eS, dahin zu wirken, daß diese Gefahren ab¬
gewendet werden, und hierfür bietet sich für jeden im politischen Leben über¬
reiche Gelegenheit,




Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.
von Georg tvebor,
2.

(Schluß,)

le französische Revolution fuhr wie ein Blitzstrahl durch die.
Geister und erschütterte die ganze bisherige Weltanschauung,
Zunächst forschte man nach den Ursachen dieser überwältigenden
Erscheinung, wobei man notwendig zu der Frage aufstieg, wie
das Staats- und Gesellschaftsleben entstanden sei und sich ent¬
wickelt habe und welche Prinzipien und Endzwecke ihm inuewohnteu. Diese


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

welche weder durch die Gleichgiltigkeit mit der Hoffnung auf einen Selbstcmsglcich
der Kräfte, noch durch die Zuversicht auf die rohe Gewalt der Bajonette be¬
seitigt werden kann. Hier gilt es, durch positive Maßregeln wirkliche Übelstände
zu beseitigen und eine Versöhnung zwischen dem Kapitalismus und der Arbeit
herbeizuführen. Mit Mühe und Not ist es den verbündeten Regierungen, ange¬
feuert durch die rastlose Energie des Kaisers und seines Kanzlers, gelungen, die ersten
Schritte auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung zu machen, ihre Fortführung
ist aber durch das Verhalten der Neichstagsmehrheit in Frage gestellt, die dabei
freilich, wenn auch unbeabsichtigt, den Parlamentarismus selbst aufs Spiel setzt.

Heute denkt selbst der verbissenste Reaktionär nicht daran, einer Rückkehr
zum absoluten Staate das Wort zu reden. Wie sehr die Regierung selbst auf
die Teilnahme des Volkes an den öffentlichen Geschäften Wert legt, beweisen
die verschiedensten Maßregeln, wie die Ausdehnung der Selbstverwaltung, die
Schaffung eines Volkswirtschaftsrates, die Beteiligung der Arbeiter bei der
Kranken- und Unfallversicherung, die Zuziehung der Interessenten bei wirtschaft¬
lichen Enqueten u, dergl. in. Haben wir aber aus dem Fiasko des parlamen¬
tarische» Regimes gesehen, daß der Parlamentarismus in seiner heutigen Ge¬
staltung noch keineswegs das letzte Ziel politischer Wohlfahrt darstellt, und daß
selbst im Konstitutionalismus die berechtigtsten Wünsche des Volkes nicht zur
Befriedigung kommen können, so müssen wir uns sagen, daß wir noch bei
weitem nicht zu dem Abschlüsse in unsrer elementarsten politischen Entwicklung
gelangt sind, die den Staat ermöglicht, auch nur der dringendsten Sorgen,
welche an ihn herantreten, Herr zu werden.

Wir würden politische Quacksalberei treiben, wenn wir mit neuen theore¬
tischen Rezepten zur Beseitigung des Übels kommen wollten. Für uns genügt
es zur Zeit, auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die unserm Staatsleben
drohen, Sache jedes Einzelnen ist eS, dahin zu wirken, daß diese Gefahren ab¬
gewendet werden, und hierfür bietet sich für jeden im politischen Leben über¬
reiche Gelegenheit,




Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.
von Georg tvebor,
2.

(Schluß,)

le französische Revolution fuhr wie ein Blitzstrahl durch die.
Geister und erschütterte die ganze bisherige Weltanschauung,
Zunächst forschte man nach den Ursachen dieser überwältigenden
Erscheinung, wobei man notwendig zu der Frage aufstieg, wie
das Staats- und Gesellschaftsleben entstanden sei und sich ent¬
wickelt habe und welche Prinzipien und Endzwecke ihm inuewohnteu. Diese


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[0304] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. welche weder durch die Gleichgiltigkeit mit der Hoffnung auf einen Selbstcmsglcich der Kräfte, noch durch die Zuversicht auf die rohe Gewalt der Bajonette be¬ seitigt werden kann. Hier gilt es, durch positive Maßregeln wirkliche Übelstände zu beseitigen und eine Versöhnung zwischen dem Kapitalismus und der Arbeit herbeizuführen. Mit Mühe und Not ist es den verbündeten Regierungen, ange¬ feuert durch die rastlose Energie des Kaisers und seines Kanzlers, gelungen, die ersten Schritte auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung zu machen, ihre Fortführung ist aber durch das Verhalten der Neichstagsmehrheit in Frage gestellt, die dabei freilich, wenn auch unbeabsichtigt, den Parlamentarismus selbst aufs Spiel setzt. Heute denkt selbst der verbissenste Reaktionär nicht daran, einer Rückkehr zum absoluten Staate das Wort zu reden. Wie sehr die Regierung selbst auf die Teilnahme des Volkes an den öffentlichen Geschäften Wert legt, beweisen die verschiedensten Maßregeln, wie die Ausdehnung der Selbstverwaltung, die Schaffung eines Volkswirtschaftsrates, die Beteiligung der Arbeiter bei der Kranken- und Unfallversicherung, die Zuziehung der Interessenten bei wirtschaft¬ lichen Enqueten u, dergl. in. Haben wir aber aus dem Fiasko des parlamen¬ tarische» Regimes gesehen, daß der Parlamentarismus in seiner heutigen Ge¬ staltung noch keineswegs das letzte Ziel politischer Wohlfahrt darstellt, und daß selbst im Konstitutionalismus die berechtigtsten Wünsche des Volkes nicht zur Befriedigung kommen können, so müssen wir uns sagen, daß wir noch bei weitem nicht zu dem Abschlüsse in unsrer elementarsten politischen Entwicklung gelangt sind, die den Staat ermöglicht, auch nur der dringendsten Sorgen, welche an ihn herantreten, Herr zu werden. Wir würden politische Quacksalberei treiben, wenn wir mit neuen theore¬ tischen Rezepten zur Beseitigung des Übels kommen wollten. Für uns genügt es zur Zeit, auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die unserm Staatsleben drohen, Sache jedes Einzelnen ist eS, dahin zu wirken, daß diese Gefahren ab¬ gewendet werden, und hierfür bietet sich für jeden im politischen Leben über¬ reiche Gelegenheit, Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. von Georg tvebor, 2. (Schluß,) le französische Revolution fuhr wie ein Blitzstrahl durch die. Geister und erschütterte die ganze bisherige Weltanschauung, Zunächst forschte man nach den Ursachen dieser überwältigenden Erscheinung, wobei man notwendig zu der Frage aufstieg, wie das Staats- und Gesellschaftsleben entstanden sei und sich ent¬ wickelt habe und welche Prinzipien und Endzwecke ihm inuewohnteu. Diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/304>, abgerufen am 05.02.2025.