Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite


Zum Sozialistengesetz.

er nationalliberale Abgeordnete Professor Dr. Gneist zu Berlin
versäumt es nicht, in Wahlreden, die er gegenwärtig hält, seine
Ansicht über das Gesetz gegen die gemeingesährlichen Bestrebungen
der Sozialdemokratie (von 1878) bestimmt zu formuliren. Bei
der hervorragenden Bedeutung des Redners, dessen Verdienste um
die Selbstverwaltungsgesetzgebung von allen Seiten anerkannt werden, ist es
wohl zweckmäßig, auf diese Formulirung etwas näher einzugehen.

Gneist ist nicht der Ansicht, daß man das genannte Gesetz ganz entbehren
könne. Aber er findet es unbedenklich, diejenigen Paragraphen des Gesetzes
aufzugeben, welche sich auf die Presse beziehen, also Z 11 bis 15. Er glaubt,
die auf dem Boden der bestehenden Gesetzgebung arbeitende Presse sei völlig
imstande, die sozialdemokratische Presse unschädlich zu machen. Die einzelnen
Gründe für diese optimistische Ansicht hat Gneist unsers Wissens weder in
Reden, noch in Schriftstücken dargelegt. Es wäre aber recht notwendig, diese
Gründe einer Prüfung zu unterziehen. Denn daß die rote Presse vor dem
Erlaß des Gesetzes die größten Bedenken erweckte, kann doch seinem Gedächtnis
"icht entschwunden sein. In einem Jahre, von 1876 bis 1877, war die Zahl
der roten Prcßorgcme von 23 auf 41, die Abonnentenzahl von 100 000 auf
160 000 gestiegen, der Parteikalender hatte einen Absatz von 50 000 Exemplaren
gefunden. Bedenkt man, daß der Leser dieser Literatur wenigstens dreimal so
i>tete sind als der Käufer, und daß den Einwirkungen der roten Presse bei
diesen Leuten keine Lektüre andrer Richtung entgegenarbeitet, so kommt eine
enorme Summe von geistig-sittlicher Triebkraft auf die genannten Preßerzengnissc.

Warum könnte einer nun heute denken, was 1878 hätte unterdrückt werden
müssen an täglichen Eindrücken auf die urteilslosen Leser, das könne man heute


Grenzboten IV. 1885. 40


Zum Sozialistengesetz.

er nationalliberale Abgeordnete Professor Dr. Gneist zu Berlin
versäumt es nicht, in Wahlreden, die er gegenwärtig hält, seine
Ansicht über das Gesetz gegen die gemeingesährlichen Bestrebungen
der Sozialdemokratie (von 1878) bestimmt zu formuliren. Bei
der hervorragenden Bedeutung des Redners, dessen Verdienste um
die Selbstverwaltungsgesetzgebung von allen Seiten anerkannt werden, ist es
wohl zweckmäßig, auf diese Formulirung etwas näher einzugehen.

Gneist ist nicht der Ansicht, daß man das genannte Gesetz ganz entbehren
könne. Aber er findet es unbedenklich, diejenigen Paragraphen des Gesetzes
aufzugeben, welche sich auf die Presse beziehen, also Z 11 bis 15. Er glaubt,
die auf dem Boden der bestehenden Gesetzgebung arbeitende Presse sei völlig
imstande, die sozialdemokratische Presse unschädlich zu machen. Die einzelnen
Gründe für diese optimistische Ansicht hat Gneist unsers Wissens weder in
Reden, noch in Schriftstücken dargelegt. Es wäre aber recht notwendig, diese
Gründe einer Prüfung zu unterziehen. Denn daß die rote Presse vor dem
Erlaß des Gesetzes die größten Bedenken erweckte, kann doch seinem Gedächtnis
"icht entschwunden sein. In einem Jahre, von 1876 bis 1877, war die Zahl
der roten Prcßorgcme von 23 auf 41, die Abonnentenzahl von 100 000 auf
160 000 gestiegen, der Parteikalender hatte einen Absatz von 50 000 Exemplaren
gefunden. Bedenkt man, daß der Leser dieser Literatur wenigstens dreimal so
i>tete sind als der Käufer, und daß den Einwirkungen der roten Presse bei
diesen Leuten keine Lektüre andrer Richtung entgegenarbeitet, so kommt eine
enorme Summe von geistig-sittlicher Triebkraft auf die genannten Preßerzengnissc.

Warum könnte einer nun heute denken, was 1878 hätte unterdrückt werden
müssen an täglichen Eindrücken auf die urteilslosen Leser, das könne man heute


Grenzboten IV. 1885. 40
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0321" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197055"/>
            <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341841_196733/figures/grenzboten_341841_196733_197055_000.jpg"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zum Sozialistengesetz.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1034"> er nationalliberale Abgeordnete Professor Dr. Gneist zu Berlin<lb/>
versäumt es nicht, in Wahlreden, die er gegenwärtig hält, seine<lb/>
Ansicht über das Gesetz gegen die gemeingesährlichen Bestrebungen<lb/>
der Sozialdemokratie (von 1878) bestimmt zu formuliren. Bei<lb/>
der hervorragenden Bedeutung des Redners, dessen Verdienste um<lb/>
die Selbstverwaltungsgesetzgebung von allen Seiten anerkannt werden, ist es<lb/>
wohl zweckmäßig, auf diese Formulirung etwas näher einzugehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1035"> Gneist ist nicht der Ansicht, daß man das genannte Gesetz ganz entbehren<lb/>
könne. Aber er findet es unbedenklich, diejenigen Paragraphen des Gesetzes<lb/>
aufzugeben, welche sich auf die Presse beziehen, also Z 11 bis 15. Er glaubt,<lb/>
die auf dem Boden der bestehenden Gesetzgebung arbeitende Presse sei völlig<lb/>
imstande, die sozialdemokratische Presse unschädlich zu machen. Die einzelnen<lb/>
Gründe für diese optimistische Ansicht hat Gneist unsers Wissens weder in<lb/>
Reden, noch in Schriftstücken dargelegt. Es wäre aber recht notwendig, diese<lb/>
Gründe einer Prüfung zu unterziehen. Denn daß die rote Presse vor dem<lb/>
Erlaß des Gesetzes die größten Bedenken erweckte, kann doch seinem Gedächtnis<lb/>
"icht entschwunden sein. In einem Jahre, von 1876 bis 1877, war die Zahl<lb/>
der roten Prcßorgcme von 23 auf 41, die Abonnentenzahl von 100 000 auf<lb/>
160 000 gestiegen, der Parteikalender hatte einen Absatz von 50 000 Exemplaren<lb/>
gefunden. Bedenkt man, daß der Leser dieser Literatur wenigstens dreimal so<lb/>
i&gt;tete sind als der Käufer, und daß den Einwirkungen der roten Presse bei<lb/>
diesen Leuten keine Lektüre andrer Richtung entgegenarbeitet, so kommt eine<lb/>
enorme Summe von geistig-sittlicher Triebkraft auf die genannten Preßerzengnissc.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1036" next="#ID_1037"> Warum könnte einer nun heute denken, was 1878 hätte unterdrückt werden<lb/>
müssen an täglichen Eindrücken auf die urteilslosen Leser, das könne man heute</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1885. 40</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0321] [Abbildung] Zum Sozialistengesetz. er nationalliberale Abgeordnete Professor Dr. Gneist zu Berlin versäumt es nicht, in Wahlreden, die er gegenwärtig hält, seine Ansicht über das Gesetz gegen die gemeingesährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (von 1878) bestimmt zu formuliren. Bei der hervorragenden Bedeutung des Redners, dessen Verdienste um die Selbstverwaltungsgesetzgebung von allen Seiten anerkannt werden, ist es wohl zweckmäßig, auf diese Formulirung etwas näher einzugehen. Gneist ist nicht der Ansicht, daß man das genannte Gesetz ganz entbehren könne. Aber er findet es unbedenklich, diejenigen Paragraphen des Gesetzes aufzugeben, welche sich auf die Presse beziehen, also Z 11 bis 15. Er glaubt, die auf dem Boden der bestehenden Gesetzgebung arbeitende Presse sei völlig imstande, die sozialdemokratische Presse unschädlich zu machen. Die einzelnen Gründe für diese optimistische Ansicht hat Gneist unsers Wissens weder in Reden, noch in Schriftstücken dargelegt. Es wäre aber recht notwendig, diese Gründe einer Prüfung zu unterziehen. Denn daß die rote Presse vor dem Erlaß des Gesetzes die größten Bedenken erweckte, kann doch seinem Gedächtnis "icht entschwunden sein. In einem Jahre, von 1876 bis 1877, war die Zahl der roten Prcßorgcme von 23 auf 41, die Abonnentenzahl von 100 000 auf 160 000 gestiegen, der Parteikalender hatte einen Absatz von 50 000 Exemplaren gefunden. Bedenkt man, daß der Leser dieser Literatur wenigstens dreimal so i>tete sind als der Käufer, und daß den Einwirkungen der roten Presse bei diesen Leuten keine Lektüre andrer Richtung entgegenarbeitet, so kommt eine enorme Summe von geistig-sittlicher Triebkraft auf die genannten Preßerzengnissc. Warum könnte einer nun heute denken, was 1878 hätte unterdrückt werden müssen an täglichen Eindrücken auf die urteilslosen Leser, das könne man heute Grenzboten IV. 1885. 40

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/321
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/321>, abgerufen am 15.01.2025.