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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die proportionale Berufsklassenwahl.

Naturgemäß bilden sich innerhalb des Rahmens jeder Berufsklassc analoge
Gruppen Gleichgesinnter. Es entstehen konservativ-agrarische, konservativ-in¬
dustrielle, konservativ-akademische Verbände ebensowohl wie liberale Handels-
vereinigungcn, sozialistische Jndustriearbeitcrvereine, klerikal-landwirtschaftliche
Verbände ?c. In allen Berufsklassen finden wir die Parleischattirung der
Gegenwart wieder. Ja die Nüancen werden sich verfeinern, lokale Einflüsse
oder persönliches Ansehen hervorragender Männer werden zu Neubildungen
führen, und jede derselben hat Aussicht, einen Abgeordneten in den Reichstag
zu entsenden, vorausgesetzt daß es ihr gelingt, im ganzen Gebiete des Reiches
eine Gefolgschaft anzuwerben, die den Wahlquotienten erreicht. Nach Maßgabe
der letzten Neichstagswahl von 1884 würde dieser 14264 Stimmen erfordern.
Eine Anhängerschaft von etwa 36 Berufsgenossen in jedem der 397 Wahlkreise
wird zur Durchdringung eines Kandidaten demnach genügen.

Mag nun auch die Anzahl politischer Verbände immerhin anschwellen,
mögen sich z. B. schlesische, oberpfcilzische oder ostfriesische Bauernhunde, fort¬
schrittliche Vereine der Metallarbeiter, der Ostseefischer, der rheinischen Gewerk¬
schaften bilden, immer wird eine solche politische Wählergruppe durch das Band
eines gemeinsamen Berufsinteresses zusammengehalten. Dieser Kitt der Fach-
gcnossenschaft wird sich dauerhafter erweisen als das Band, das gegenwärtig
die politischen Parteien zusammenhält. In allen ökonomischen Fragen wird
das Berufsintercsse ausschlaggebend sein, während bei ethischen, politischen und
sozialen Erwägungen die innerhalb des Berufsstazides eingetretene Fraktions¬
bildung freien Spielraum für die Geltendmachung aller Ansichten gewährt. Die
ständische Gliederung ermöglicht eben jedem deutschen Wähler den Anschluß an
eine politische Partei, ohne daß ein Verzicht auf seine Berufsinteressen gefordert
wird. Bis jetzt ist dies nicht der Fall. Die heute herrschenden Parteien können,
da sie ihre Mitglieder unter allen Volksklassen anwerben, die Berufsinteressen
einzelner Stände nicht berücksichtigen, und wenn es gelegentlich einmal geschieht,
wie etwa bei den Konservativen hinsichtlich der Landwirtschaft, beim Fortschritt
hinsichtlich der Großindustrie und des Geldhandels:c., fo beweist es nur, daß
die Zahl der jene Richtung begünstigenden Mitglieder zeitweilig überwiegt und
die Minorität gezwungen ist, die ökonomischen Wünsche den allgemeinen Partei-
interessen unterm ordnen.


L. Einleitung der Wahlberoegung.

Im Nahmen der berufsftäudischeu Genossenschaft haben sich große Zentral¬
wahlvereine gebildet und zwar so viele, als politische Meinungsgruppen vorhanden
sind. Die Wahlvereiue der gleichen politischen Richtungen treten behufs Auf¬
stellung der Kandidaten miteinander in Verbindung und stehen in einem natür¬
lichen Kartellverhültnis. Der konservativ-agrarische Wnhlverein wird mit dem
konservativ-industriellen, dem konservativ-merkantilen ?c. Fühlung nehmen, ebenso
der liberal-agrarische, sozial-agrarische u. s. f. Diese Verbindung hat außer dem


Die proportionale Berufsklassenwahl.

Naturgemäß bilden sich innerhalb des Rahmens jeder Berufsklassc analoge
Gruppen Gleichgesinnter. Es entstehen konservativ-agrarische, konservativ-in¬
dustrielle, konservativ-akademische Verbände ebensowohl wie liberale Handels-
vereinigungcn, sozialistische Jndustriearbeitcrvereine, klerikal-landwirtschaftliche
Verbände ?c. In allen Berufsklassen finden wir die Parleischattirung der
Gegenwart wieder. Ja die Nüancen werden sich verfeinern, lokale Einflüsse
oder persönliches Ansehen hervorragender Männer werden zu Neubildungen
führen, und jede derselben hat Aussicht, einen Abgeordneten in den Reichstag
zu entsenden, vorausgesetzt daß es ihr gelingt, im ganzen Gebiete des Reiches
eine Gefolgschaft anzuwerben, die den Wahlquotienten erreicht. Nach Maßgabe
der letzten Neichstagswahl von 1884 würde dieser 14264 Stimmen erfordern.
Eine Anhängerschaft von etwa 36 Berufsgenossen in jedem der 397 Wahlkreise
wird zur Durchdringung eines Kandidaten demnach genügen.

Mag nun auch die Anzahl politischer Verbände immerhin anschwellen,
mögen sich z. B. schlesische, oberpfcilzische oder ostfriesische Bauernhunde, fort¬
schrittliche Vereine der Metallarbeiter, der Ostseefischer, der rheinischen Gewerk¬
schaften bilden, immer wird eine solche politische Wählergruppe durch das Band
eines gemeinsamen Berufsinteresses zusammengehalten. Dieser Kitt der Fach-
gcnossenschaft wird sich dauerhafter erweisen als das Band, das gegenwärtig
die politischen Parteien zusammenhält. In allen ökonomischen Fragen wird
das Berufsintercsse ausschlaggebend sein, während bei ethischen, politischen und
sozialen Erwägungen die innerhalb des Berufsstazides eingetretene Fraktions¬
bildung freien Spielraum für die Geltendmachung aller Ansichten gewährt. Die
ständische Gliederung ermöglicht eben jedem deutschen Wähler den Anschluß an
eine politische Partei, ohne daß ein Verzicht auf seine Berufsinteressen gefordert
wird. Bis jetzt ist dies nicht der Fall. Die heute herrschenden Parteien können,
da sie ihre Mitglieder unter allen Volksklassen anwerben, die Berufsinteressen
einzelner Stände nicht berücksichtigen, und wenn es gelegentlich einmal geschieht,
wie etwa bei den Konservativen hinsichtlich der Landwirtschaft, beim Fortschritt
hinsichtlich der Großindustrie und des Geldhandels:c., fo beweist es nur, daß
die Zahl der jene Richtung begünstigenden Mitglieder zeitweilig überwiegt und
die Minorität gezwungen ist, die ökonomischen Wünsche den allgemeinen Partei-
interessen unterm ordnen.


L. Einleitung der Wahlberoegung.

Im Nahmen der berufsftäudischeu Genossenschaft haben sich große Zentral¬
wahlvereine gebildet und zwar so viele, als politische Meinungsgruppen vorhanden
sind. Die Wahlvereiue der gleichen politischen Richtungen treten behufs Auf¬
stellung der Kandidaten miteinander in Verbindung und stehen in einem natür¬
lichen Kartellverhültnis. Der konservativ-agrarische Wnhlverein wird mit dem
konservativ-industriellen, dem konservativ-merkantilen ?c. Fühlung nehmen, ebenso
der liberal-agrarische, sozial-agrarische u. s. f. Diese Verbindung hat außer dem


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[0125] Die proportionale Berufsklassenwahl. Naturgemäß bilden sich innerhalb des Rahmens jeder Berufsklassc analoge Gruppen Gleichgesinnter. Es entstehen konservativ-agrarische, konservativ-in¬ dustrielle, konservativ-akademische Verbände ebensowohl wie liberale Handels- vereinigungcn, sozialistische Jndustriearbeitcrvereine, klerikal-landwirtschaftliche Verbände ?c. In allen Berufsklassen finden wir die Parleischattirung der Gegenwart wieder. Ja die Nüancen werden sich verfeinern, lokale Einflüsse oder persönliches Ansehen hervorragender Männer werden zu Neubildungen führen, und jede derselben hat Aussicht, einen Abgeordneten in den Reichstag zu entsenden, vorausgesetzt daß es ihr gelingt, im ganzen Gebiete des Reiches eine Gefolgschaft anzuwerben, die den Wahlquotienten erreicht. Nach Maßgabe der letzten Neichstagswahl von 1884 würde dieser 14264 Stimmen erfordern. Eine Anhängerschaft von etwa 36 Berufsgenossen in jedem der 397 Wahlkreise wird zur Durchdringung eines Kandidaten demnach genügen. Mag nun auch die Anzahl politischer Verbände immerhin anschwellen, mögen sich z. B. schlesische, oberpfcilzische oder ostfriesische Bauernhunde, fort¬ schrittliche Vereine der Metallarbeiter, der Ostseefischer, der rheinischen Gewerk¬ schaften bilden, immer wird eine solche politische Wählergruppe durch das Band eines gemeinsamen Berufsinteresses zusammengehalten. Dieser Kitt der Fach- gcnossenschaft wird sich dauerhafter erweisen als das Band, das gegenwärtig die politischen Parteien zusammenhält. In allen ökonomischen Fragen wird das Berufsintercsse ausschlaggebend sein, während bei ethischen, politischen und sozialen Erwägungen die innerhalb des Berufsstazides eingetretene Fraktions¬ bildung freien Spielraum für die Geltendmachung aller Ansichten gewährt. Die ständische Gliederung ermöglicht eben jedem deutschen Wähler den Anschluß an eine politische Partei, ohne daß ein Verzicht auf seine Berufsinteressen gefordert wird. Bis jetzt ist dies nicht der Fall. Die heute herrschenden Parteien können, da sie ihre Mitglieder unter allen Volksklassen anwerben, die Berufsinteressen einzelner Stände nicht berücksichtigen, und wenn es gelegentlich einmal geschieht, wie etwa bei den Konservativen hinsichtlich der Landwirtschaft, beim Fortschritt hinsichtlich der Großindustrie und des Geldhandels:c., fo beweist es nur, daß die Zahl der jene Richtung begünstigenden Mitglieder zeitweilig überwiegt und die Minorität gezwungen ist, die ökonomischen Wünsche den allgemeinen Partei- interessen unterm ordnen. L. Einleitung der Wahlberoegung. Im Nahmen der berufsftäudischeu Genossenschaft haben sich große Zentral¬ wahlvereine gebildet und zwar so viele, als politische Meinungsgruppen vorhanden sind. Die Wahlvereiue der gleichen politischen Richtungen treten behufs Auf¬ stellung der Kandidaten miteinander in Verbindung und stehen in einem natür¬ lichen Kartellverhültnis. Der konservativ-agrarische Wnhlverein wird mit dem konservativ-industriellen, dem konservativ-merkantilen ?c. Fühlung nehmen, ebenso der liberal-agrarische, sozial-agrarische u. s. f. Diese Verbindung hat außer dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/125>, abgerufen am 15.01.2025.