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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Notiz,

Agrarische Bewegungen in Oberitalien. Fast ganz unvorbereitet lasen
die Meisten kürzlich von ziemlich grausigen Empörungen der Bauern in Oberitalien
gegen die großen Grundbesitzer. Die Mitteilungen erinnerten in der That an die
deutschen Bauernkriege. Wenn die italienische Negierung bald wieder eine leidliche
Ordnung hergestellt hat, so ist es doch von Interesse, auf die Uebelstände zurück¬
zukommen, die sich in so argen Symptomen kundgaben.

Unter den vielen Uebelständen, die aus alter Zeit die gegenwärtig neu belebte
und so begabte italienische Nation hemmen, ist auch das Proletariat der kleinen
Bauern. Es herrscht in Italien überall, von Sizilien bis Piemont, aber seine be-
trübendsten Wirkungen zeigen sich in Oberitalien, wo das Klima nicht so sehr die
Bedürfnislosigkeit ermöglicht wie im Süden. Die Bauern sind kaum noch Pächter,
sie sind eigentlich nur Tagelöhner. Die Verträge lauten z. B. auf Schlafstelle und
sechzig Ceutesimi den Tag oder auf die gleiche Teilung der Produkte, wobei aber
noch Abzüge gemacht werden, oder sie lauten auf Ablieferung eines bestimmten
Maßes von Produkten, wobei der Bauer deu Schaden einer Mißernte zu tragen
hat. Es kommt auch vielfach Geldvcrtrag vor zu Wucherscitzeu, denn der Grund¬
besitzer hat die Macht. Trotz der starken Auswanderung der Italiener finden sich
mehr Arbeitsuchende, als gut ist. Die Folge ist das elendeste Leben dieser Männer
und Familien in Löchern, in denen das Wasser an den Wänden herunterläuft,
eine Ernährung, die seit Generationen in zunehmender Weise die furchtbare Krank¬
heit erzeugt, die mau Pellcigra (Teufelsflechte, Alvenskorbnt) nennt. Es ist el"
Hautausschlag, der sich auf die Muskeln nud zuletzt auf das Gehirn wirft und mit
Melancholie nud Geisteskrankheit endet. Mau rechnet fast hunderttausend solcher
Kranken auf eine Landbevölkerung von etwa 6^>, Millionen, also fünfzehn Pro
Mille. In Frankreich, wo diese Krankheit auch nicht unbekannt ist, hat man heraus¬
gefunden, daß, wenn man an die Stelle des schlechten ungesalzenen Hirsebreis
ordentlich gebackenes Brot setzte, die Pellagra nicht mehr die Heranwachsenden be¬
fiel. Jedenfalls ist die Krankheit eine Elendskrankheit.

Wenn die so gequälten Bauern, die man jetzt zwangsweise lesen und schreiben
lehren will, sich mit brutaler Gewalt gegen ihre reichen Grundherren wenden, so
ist das nur allzu begreiflich. Ohne etwas von den Jrlcindern zu wissen, gehen
sie ähnliche Wege. Die südlichern Landsleute werden zu Brigauten ans Mangel
an Snbsistenzmitteln, im Norden wird auf andre direkte Art dem Gutsbesitzer zu
Leibe gegangen. Die eigentliche Ursache des Uebels erkennen sie nicht. Die Volks¬
vertreter und Staatsmänner sehen wohl, wie tief der Schade sitzt, auf dem Papier
hat man mich Heilmittel dagegen entworfen, aber geschehen ist nichts von Erheb¬
lichkeit, und bei der Natur des italienischen Parlaments versteht sich das ziemlich
von selbst, wenn man bedenkt, daß zu wirklichen Verbesserungen, wie Dr. Bernardi
in G. Schmollers Jahrbüchern gezeigt hat, eine nicht unbedeutende Geldsumme ge¬
hört, mit der das ohnehin vielbesteuerte Volk zu belasten kein, Parlament gern auf
sich nimmt.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig.
Notiz,

Agrarische Bewegungen in Oberitalien. Fast ganz unvorbereitet lasen
die Meisten kürzlich von ziemlich grausigen Empörungen der Bauern in Oberitalien
gegen die großen Grundbesitzer. Die Mitteilungen erinnerten in der That an die
deutschen Bauernkriege. Wenn die italienische Negierung bald wieder eine leidliche
Ordnung hergestellt hat, so ist es doch von Interesse, auf die Uebelstände zurück¬
zukommen, die sich in so argen Symptomen kundgaben.

Unter den vielen Uebelständen, die aus alter Zeit die gegenwärtig neu belebte
und so begabte italienische Nation hemmen, ist auch das Proletariat der kleinen
Bauern. Es herrscht in Italien überall, von Sizilien bis Piemont, aber seine be-
trübendsten Wirkungen zeigen sich in Oberitalien, wo das Klima nicht so sehr die
Bedürfnislosigkeit ermöglicht wie im Süden. Die Bauern sind kaum noch Pächter,
sie sind eigentlich nur Tagelöhner. Die Verträge lauten z. B. auf Schlafstelle und
sechzig Ceutesimi den Tag oder auf die gleiche Teilung der Produkte, wobei aber
noch Abzüge gemacht werden, oder sie lauten auf Ablieferung eines bestimmten
Maßes von Produkten, wobei der Bauer deu Schaden einer Mißernte zu tragen
hat. Es kommt auch vielfach Geldvcrtrag vor zu Wucherscitzeu, denn der Grund¬
besitzer hat die Macht. Trotz der starken Auswanderung der Italiener finden sich
mehr Arbeitsuchende, als gut ist. Die Folge ist das elendeste Leben dieser Männer
und Familien in Löchern, in denen das Wasser an den Wänden herunterläuft,
eine Ernährung, die seit Generationen in zunehmender Weise die furchtbare Krank¬
heit erzeugt, die mau Pellcigra (Teufelsflechte, Alvenskorbnt) nennt. Es ist el»
Hautausschlag, der sich auf die Muskeln nud zuletzt auf das Gehirn wirft und mit
Melancholie nud Geisteskrankheit endet. Mau rechnet fast hunderttausend solcher
Kranken auf eine Landbevölkerung von etwa 6^>, Millionen, also fünfzehn Pro
Mille. In Frankreich, wo diese Krankheit auch nicht unbekannt ist, hat man heraus¬
gefunden, daß, wenn man an die Stelle des schlechten ungesalzenen Hirsebreis
ordentlich gebackenes Brot setzte, die Pellagra nicht mehr die Heranwachsenden be¬
fiel. Jedenfalls ist die Krankheit eine Elendskrankheit.

Wenn die so gequälten Bauern, die man jetzt zwangsweise lesen und schreiben
lehren will, sich mit brutaler Gewalt gegen ihre reichen Grundherren wenden, so
ist das nur allzu begreiflich. Ohne etwas von den Jrlcindern zu wissen, gehen
sie ähnliche Wege. Die südlichern Landsleute werden zu Brigauten ans Mangel
an Snbsistenzmitteln, im Norden wird auf andre direkte Art dem Gutsbesitzer zu
Leibe gegangen. Die eigentliche Ursache des Uebels erkennen sie nicht. Die Volks¬
vertreter und Staatsmänner sehen wohl, wie tief der Schade sitzt, auf dem Papier
hat man mich Heilmittel dagegen entworfen, aber geschehen ist nichts von Erheb¬
lichkeit, und bei der Natur des italienischen Parlaments versteht sich das ziemlich
von selbst, wenn man bedenkt, daß zu wirklichen Verbesserungen, wie Dr. Bernardi
in G. Schmollers Jahrbüchern gezeigt hat, eine nicht unbedeutende Geldsumme ge¬
hört, mit der das ohnehin vielbesteuerte Volk zu belasten kein, Parlament gern auf
sich nimmt.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/536>, abgerufen am 21.11.2024.