Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.Oehme sidilare! er Schnee wirbelt in dichten Flocken, alles ist grau in grau ge¬ Diese Stilblüte ungefähr schrieb der Reichstagsabgeordnete für den ge¬ Diesmal aber ereignete sich das Ungewöhnliche und Unglaubliche: der Gewiß waren das mannhafte und wahre Worte, ebenso mannhaft und Grenzboten II. 188S. 12
Oehme sidilare! er Schnee wirbelt in dichten Flocken, alles ist grau in grau ge¬ Diese Stilblüte ungefähr schrieb der Reichstagsabgeordnete für den ge¬ Diesmal aber ereignete sich das Ungewöhnliche und Unglaubliche: der Gewiß waren das mannhafte und wahre Worte, ebenso mannhaft und Grenzboten II. 188S. 12
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0094" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195483"/> </div> <div n="1"> <head> Oehme sidilare!</head><lb/> <p xml:id="ID_300"> er Schnee wirbelt in dichten Flocken, alles ist grau in grau ge¬<lb/> färbt, ganz Berlin ist wie in ein großes Leichentuch gehüllt,<lb/> Eine Natnrszcnerie, trefflich zu dem Werke passend, welches der<lb/> Reichstag zu vollbringen im Begriff steht: mit neuen Zöllen ein<lb/> Hungertuch zu weben für das ganze deutsche Volk.</p><lb/> <p xml:id="ID_301"> Diese Stilblüte ungefähr schrieb der Reichstagsabgeordnete für den ge¬<lb/> segneten Tanbergrnud, Herr Karl Mayer, Mitte Februar nieder, als das<lb/> Parlament vor der Beratung der Getreidezölle stand. In wissenden Kreisen<lb/> munkelt mau, daß solche gefühlvolle Ergüsse dem betreffenden Herrn in der<lb/> Regel zu kommen pflegen, wenn er gut gefrühstückt hat und nach dem Gesetz<lb/> der Jdeenassoziativn derer gedenkt, die etwas weniger behaglich am Tische des<lb/> Lebens sitzen, als dies unsern Neichsboten beschieden zu sein Pflegt. Man nimmt<lb/> diese Ergüsse deun anch nirgends anders auf denn als Erzeugnisse der Stunde<lb/> und besonders menschenfreundlicher Stimmungsauwandlnngeu. Ernst genommen<lb/> werden sie nnr im „Beobachter," welcher demnächst den sechzigsten Neichstags-<lb/> bricf ans der Feder Herrn Mayers bringen wird und an ähnliche Dinge bereits<lb/> vollauf gewöhnt ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_302"> Diesmal aber ereignete sich das Ungewöhnliche und Unglaubliche: der<lb/> „Beobachter" druckte zwar den fraglichen Passus ab, begleitete ihn jedoch mit<lb/> ironischem Lächeln, was jeglichem Respekt und jeglicher Pietät vor seinem frühern<lb/> Redakteur gänzlich zuwider war. Der leitende Mann des Blattes, Herr Rechts-<lb/> anwalt Eugen Stockmayer in Stuttgart, erklärte nämlich ein paar Tage nachher<lb/> trocken in einem Leitartikel, daß solche Ansichten von der Wirkung der Getreide¬<lb/> zölle übertrieben seien; daß diese Wirkungen wahrscheinlich hinter den Befürch¬<lb/> tungen ebenso zurückbleiben würden wie hinter den Hoffnungen, die man an sie<lb/> knüpfe; daß aber auf alle Fälle soviel unzweifelhaft sei, daß die Getreidezölle<lb/> eine große Rolle bei den Wahlen gespielt hätten, daß die Mehrheit des Volkes<lb/> sie wolle, und daß es folglich derjenigen Partei, welche immer von der Mehr¬<lb/> heit die Entscheidung erwarte und das Recht dieser Mehrheit grundsätzlich hoch¬<lb/> halte, nämlich der Volkspartei, am allerschlechtesten anstehe, dann gegen die<lb/> Mehrheit rebellisch zu werden, wenn sie einmal gegen das demokratische Pro¬<lb/> gramm entscheide.</p><lb/> <p xml:id="ID_303" next="#ID_304"> Gewiß waren das mannhafte und wahre Worte, ebenso mannhaft und<lb/> wahr wie jene, mit denen Stockmayer nach der Wahl vom 28. Oktober 1884,</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 188S. 12</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0094]
Oehme sidilare!
er Schnee wirbelt in dichten Flocken, alles ist grau in grau ge¬
färbt, ganz Berlin ist wie in ein großes Leichentuch gehüllt,
Eine Natnrszcnerie, trefflich zu dem Werke passend, welches der
Reichstag zu vollbringen im Begriff steht: mit neuen Zöllen ein
Hungertuch zu weben für das ganze deutsche Volk.
Diese Stilblüte ungefähr schrieb der Reichstagsabgeordnete für den ge¬
segneten Tanbergrnud, Herr Karl Mayer, Mitte Februar nieder, als das
Parlament vor der Beratung der Getreidezölle stand. In wissenden Kreisen
munkelt mau, daß solche gefühlvolle Ergüsse dem betreffenden Herrn in der
Regel zu kommen pflegen, wenn er gut gefrühstückt hat und nach dem Gesetz
der Jdeenassoziativn derer gedenkt, die etwas weniger behaglich am Tische des
Lebens sitzen, als dies unsern Neichsboten beschieden zu sein Pflegt. Man nimmt
diese Ergüsse deun anch nirgends anders auf denn als Erzeugnisse der Stunde
und besonders menschenfreundlicher Stimmungsauwandlnngeu. Ernst genommen
werden sie nnr im „Beobachter," welcher demnächst den sechzigsten Neichstags-
bricf ans der Feder Herrn Mayers bringen wird und an ähnliche Dinge bereits
vollauf gewöhnt ist.
Diesmal aber ereignete sich das Ungewöhnliche und Unglaubliche: der
„Beobachter" druckte zwar den fraglichen Passus ab, begleitete ihn jedoch mit
ironischem Lächeln, was jeglichem Respekt und jeglicher Pietät vor seinem frühern
Redakteur gänzlich zuwider war. Der leitende Mann des Blattes, Herr Rechts-
anwalt Eugen Stockmayer in Stuttgart, erklärte nämlich ein paar Tage nachher
trocken in einem Leitartikel, daß solche Ansichten von der Wirkung der Getreide¬
zölle übertrieben seien; daß diese Wirkungen wahrscheinlich hinter den Befürch¬
tungen ebenso zurückbleiben würden wie hinter den Hoffnungen, die man an sie
knüpfe; daß aber auf alle Fälle soviel unzweifelhaft sei, daß die Getreidezölle
eine große Rolle bei den Wahlen gespielt hätten, daß die Mehrheit des Volkes
sie wolle, und daß es folglich derjenigen Partei, welche immer von der Mehr¬
heit die Entscheidung erwarte und das Recht dieser Mehrheit grundsätzlich hoch¬
halte, nämlich der Volkspartei, am allerschlechtesten anstehe, dann gegen die
Mehrheit rebellisch zu werden, wenn sie einmal gegen das demokratische Pro¬
gramm entscheide.
Gewiß waren das mannhafte und wahre Worte, ebenso mannhaft und
wahr wie jene, mit denen Stockmayer nach der Wahl vom 28. Oktober 1884,
Grenzboten II. 188S. 12
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