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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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sie zu erfassen, ist ein tiefes Eindringen in seine Erzeugnisse erforderlich. Das
rechte Verständnis derselben wird nur dem artverwandten Künstler aufgehen --
die bloße Nachahmung wird sich sofort als Karikatur kennzeichnen. Der
kühn skizzirte, ungezwungene Wurf, die bestimmte, scharfe Zeichnung der Charak¬
tere, die klare Anordnung der Situationen -- das sind künstlerische Vorzüge
der Turgeujewschen Novelle, die sich beim besten Willen nicht imitiren lassen.
Umsomehr fordern sie zum Studium heraus, und in der That haben sich, zumal
in Deutschland, die besten Novellisten, selbst ein Heyse, dem Einfluß Turgenjews
nicht entziehen können. Dieser Einfluß hat noch nicht aufgehört zu wirken
und wird sich in Zukunft -- nicht zum Nachteil der deutschen Novelle -- noch
wesentlich verstärken. Turgenjew tritt dadurch auch für den deutschen Literar¬
historiker stark in den Vordergrund. Dem Studium dieser glänzenden litera-
rischen Erscheinung stellen sich freilich mancherlei Schwierigkeiten in den Weg.
Wir konnten Dickens und Thackercch, Flaubert und Daudet, Zola und Bret
Harte leichter begreifen, weil der englische, französische und amerikanische Kultur¬
boden, aus welchem sie hervorgewachsen sind, unserm Verständnis näherliegt.
Dasselbe ist mit den nordischen und italienischen Realisten der Fall. Rußland
und die Russen dagegen, die Turgenjew uns schildert, sind unsrer Vorstellung
immer uoch fremd; weder ihre Sprache uoch ihre gesellschaftlichen Verhältnisse
sind der überwiegenden Mehrzahl des deutschen Publikums geläufig. Was ins¬
besondre Turgenjew anlangt, so war es nicht seine Art, seine eigne Persönlich¬
keit in den Vordergrund zu stellen. Es entsprach dem ruhigen, schlichten Wesen
dieses vornehmen Schriftstellers, sein Privatleben ebenso wie seine Atelicrarbeit
dem Lichte der Öffentlichkeit zu entziehen, sodaß selbst in der Heimat des Dichters
nicht viel hierüber bekannt war. Umso größer war das Interesse, mit welchem
der bald nach Turgenjews Tode angekündigte Briefwechsel des Verstorbenen er¬
wartet wurde. Dieser "Briefwechsel," dessen pekuniärer Ertrag den Grundstock
zu einer Turgcnjewstiftung bilden soll, ist soeben") von der Petersburger "Ge¬
sellschaft zur Unterstützung bedürftiger Literaten und Gelehrten" in russischer
Sprache veröffentlicht worden. Er bietet soviel des Interessanten, soviel bio¬
graphisch, literarisch und kulturhistorisch wertvolles Material, daß auch die
deutschen Turgenjewforscher nicht werden umhin können, dieser Quelle in Zu¬
kunft näherzutreten.

1.

Turgeujews Leben war in äußerlicher Beziehung ganz und gar das eines
russischen Grandseigueurs. Einem Zugvogel gleich flattert der Dichter des
sarmatischen Tieflandes bald dahin, bald dorthin durch sein geliebtes Europa,
"in immer wieder in die winterliche Kulturatmosphäre seiner rauhen Heimat



?ör>vo,js sobru-tu^j o xissm ^. L. Illr^su^s^ 1840--1883. L.-?se<zMu.-ß-, 188S.

sie zu erfassen, ist ein tiefes Eindringen in seine Erzeugnisse erforderlich. Das
rechte Verständnis derselben wird nur dem artverwandten Künstler aufgehen —
die bloße Nachahmung wird sich sofort als Karikatur kennzeichnen. Der
kühn skizzirte, ungezwungene Wurf, die bestimmte, scharfe Zeichnung der Charak¬
tere, die klare Anordnung der Situationen — das sind künstlerische Vorzüge
der Turgeujewschen Novelle, die sich beim besten Willen nicht imitiren lassen.
Umsomehr fordern sie zum Studium heraus, und in der That haben sich, zumal
in Deutschland, die besten Novellisten, selbst ein Heyse, dem Einfluß Turgenjews
nicht entziehen können. Dieser Einfluß hat noch nicht aufgehört zu wirken
und wird sich in Zukunft — nicht zum Nachteil der deutschen Novelle — noch
wesentlich verstärken. Turgenjew tritt dadurch auch für den deutschen Literar¬
historiker stark in den Vordergrund. Dem Studium dieser glänzenden litera-
rischen Erscheinung stellen sich freilich mancherlei Schwierigkeiten in den Weg.
Wir konnten Dickens und Thackercch, Flaubert und Daudet, Zola und Bret
Harte leichter begreifen, weil der englische, französische und amerikanische Kultur¬
boden, aus welchem sie hervorgewachsen sind, unserm Verständnis näherliegt.
Dasselbe ist mit den nordischen und italienischen Realisten der Fall. Rußland
und die Russen dagegen, die Turgenjew uns schildert, sind unsrer Vorstellung
immer uoch fremd; weder ihre Sprache uoch ihre gesellschaftlichen Verhältnisse
sind der überwiegenden Mehrzahl des deutschen Publikums geläufig. Was ins¬
besondre Turgenjew anlangt, so war es nicht seine Art, seine eigne Persönlich¬
keit in den Vordergrund zu stellen. Es entsprach dem ruhigen, schlichten Wesen
dieses vornehmen Schriftstellers, sein Privatleben ebenso wie seine Atelicrarbeit
dem Lichte der Öffentlichkeit zu entziehen, sodaß selbst in der Heimat des Dichters
nicht viel hierüber bekannt war. Umso größer war das Interesse, mit welchem
der bald nach Turgenjews Tode angekündigte Briefwechsel des Verstorbenen er¬
wartet wurde. Dieser „Briefwechsel," dessen pekuniärer Ertrag den Grundstock
zu einer Turgcnjewstiftung bilden soll, ist soeben") von der Petersburger „Ge¬
sellschaft zur Unterstützung bedürftiger Literaten und Gelehrten" in russischer
Sprache veröffentlicht worden. Er bietet soviel des Interessanten, soviel bio¬
graphisch, literarisch und kulturhistorisch wertvolles Material, daß auch die
deutschen Turgenjewforscher nicht werden umhin können, dieser Quelle in Zu¬
kunft näherzutreten.

1.

Turgeujews Leben war in äußerlicher Beziehung ganz und gar das eines
russischen Grandseigueurs. Einem Zugvogel gleich flattert der Dichter des
sarmatischen Tieflandes bald dahin, bald dorthin durch sein geliebtes Europa,
»in immer wieder in die winterliche Kulturatmosphäre seiner rauhen Heimat



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[0352] sie zu erfassen, ist ein tiefes Eindringen in seine Erzeugnisse erforderlich. Das rechte Verständnis derselben wird nur dem artverwandten Künstler aufgehen — die bloße Nachahmung wird sich sofort als Karikatur kennzeichnen. Der kühn skizzirte, ungezwungene Wurf, die bestimmte, scharfe Zeichnung der Charak¬ tere, die klare Anordnung der Situationen — das sind künstlerische Vorzüge der Turgeujewschen Novelle, die sich beim besten Willen nicht imitiren lassen. Umsomehr fordern sie zum Studium heraus, und in der That haben sich, zumal in Deutschland, die besten Novellisten, selbst ein Heyse, dem Einfluß Turgenjews nicht entziehen können. Dieser Einfluß hat noch nicht aufgehört zu wirken und wird sich in Zukunft — nicht zum Nachteil der deutschen Novelle — noch wesentlich verstärken. Turgenjew tritt dadurch auch für den deutschen Literar¬ historiker stark in den Vordergrund. Dem Studium dieser glänzenden litera- rischen Erscheinung stellen sich freilich mancherlei Schwierigkeiten in den Weg. Wir konnten Dickens und Thackercch, Flaubert und Daudet, Zola und Bret Harte leichter begreifen, weil der englische, französische und amerikanische Kultur¬ boden, aus welchem sie hervorgewachsen sind, unserm Verständnis näherliegt. Dasselbe ist mit den nordischen und italienischen Realisten der Fall. Rußland und die Russen dagegen, die Turgenjew uns schildert, sind unsrer Vorstellung immer uoch fremd; weder ihre Sprache uoch ihre gesellschaftlichen Verhältnisse sind der überwiegenden Mehrzahl des deutschen Publikums geläufig. Was ins¬ besondre Turgenjew anlangt, so war es nicht seine Art, seine eigne Persönlich¬ keit in den Vordergrund zu stellen. Es entsprach dem ruhigen, schlichten Wesen dieses vornehmen Schriftstellers, sein Privatleben ebenso wie seine Atelicrarbeit dem Lichte der Öffentlichkeit zu entziehen, sodaß selbst in der Heimat des Dichters nicht viel hierüber bekannt war. Umso größer war das Interesse, mit welchem der bald nach Turgenjews Tode angekündigte Briefwechsel des Verstorbenen er¬ wartet wurde. Dieser „Briefwechsel," dessen pekuniärer Ertrag den Grundstock zu einer Turgcnjewstiftung bilden soll, ist soeben") von der Petersburger „Ge¬ sellschaft zur Unterstützung bedürftiger Literaten und Gelehrten" in russischer Sprache veröffentlicht worden. Er bietet soviel des Interessanten, soviel bio¬ graphisch, literarisch und kulturhistorisch wertvolles Material, daß auch die deutschen Turgenjewforscher nicht werden umhin können, dieser Quelle in Zu¬ kunft näherzutreten. 1. Turgeujews Leben war in äußerlicher Beziehung ganz und gar das eines russischen Grandseigueurs. Einem Zugvogel gleich flattert der Dichter des sarmatischen Tieflandes bald dahin, bald dorthin durch sein geliebtes Europa, »in immer wieder in die winterliche Kulturatmosphäre seiner rauhen Heimat ?ör>vo,js sobru-tu^j o xissm ^. L. Illr^su^s^ 1840—1883. L.-?se<zMu.-ß-, 188S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/352>, abgerufen am 22.07.2024.