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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Zur Revision mcinchosterlicher Lehren.

teres Moment mit, welches außerhalb des Prozesses der Gütererzeugung liegt,
nämlich die Volksvermehrung.


6.

Die Lehre der Manchesterschule, welche die Menschheit auf die Ausgleichung
vertröstet, die die wirtschaftlichen Mißstüude durch das naturgemäße Walten
der Gesetze der Vertragsfreiheit und der Preisbildung durch Nachfrage und
Angebot finden sollen, diese Lehre erweist sich in keinem Punkte so hinfällig,
so trügerisch und trostlos als gerade bei dem Arbeitslohn. Denn ein vermin¬
dertes oder wenigstens ein zurückbleibendes Angebot von Arbeitern wird durch
die fortwährende Zunahme der Bevölkerung ausgeglichen. Wo gleichwohl einmal
in einer beschränkten Örtlichkeit wirklicher Mangel an Arbeitern entstehen sollte,
da findet infolge der außerordentlichen Entwicklung unsrer räumlichen und
geistigen Verkehrscmftcilten alsbald ein Zuströmen arbeitsuchender Menschen
statt, sei es, daß sie von den Arbeitgebern gerufen werden, welche auf den
steigenden Lohn drücken wollen, sei es, daß sie aus eignem Antrieb kommen,
weil sie von der vermehrten Nachfrage Nutzen ziehen wollen.

Nun lehrt freilich die Schule (Malthus), daß solches Elend, wie es ein
ungenügender Arbeitslohn mit der Zeit erzeugt, eines jener repressiven Heil¬
mittel sei, welche der an und für sich naturgesetzlich fortschreitenden Bevölkerungs¬
zunahme steuern. Malthus giebt mit großartiger Ruhe, welche dem Menschen¬
freunde Schauder erregt, das Rezept, durch welches die Arbeiter zu einer
Beschränkung des Angebots ihrer Kräfte gelangen können: "Die Produktivkraft
des Menschengeschlechtes, sagt er, ist derjenigen der Erde sin betreff der Nahrungs-
mittelj so endlos überlegen, daß, wenn jene nicht durch zuvorkommende Hemm¬
nisse j geschlechtliche Enthaltsamkeit^ gezügelt wird, ein unzeitiger Tod in einer
oder der andern Gestalt die Menschen dahinraffen muß. Die Laster der Menschen
sind kluge Knappen der Entvölkerung. Sie sind gleichsam die leichten Truppen
in der großen Verheerungsarmee und beenden nicht selten allein schon das
schreckliche Geschäft. Gelingt es ihnen nicht, dann treten ungesunde Jahre,
Seuchen u. dergl. in fürchterlicher Gestalt hervor. Ist der Sieg noch nicht
vollkommen, dann schreitet zuletzt das unwiderstehliche Ungeheuer Hungersnot
hervor, das mit einem Schlage die üppige Volksmenge niederwirft und der
vorhandenen Menge der Nahrungsmittel gleichmacht." Malthus belehrt uns
weiter über die tröstliche Ausgleichung in dem Walten unerbittlicher Natur¬
gesetze, indem er sagt: "Mehrere reiche Ernten bereiten eine Hungersnot vor,
denn wohlfeile und fruchtbare Jahre verleiten eine Menge Menschen zum Hei¬
raten, sodaß bald darauf schon ein mittelmäßiges Jahr Mangel erzeugen kann.
Tölliche Epidemien haben oft ungemein gesunde Jahre zur Folge, weil die
vorhergegangene Seuche die meisten schwachen und schadhaften Körper wegrafft;
der Gewinn an Raum und Nahrung des gemeinen Mannes mehrt sich, da ihm


Zur Revision mcinchosterlicher Lehren.

teres Moment mit, welches außerhalb des Prozesses der Gütererzeugung liegt,
nämlich die Volksvermehrung.


6.

Die Lehre der Manchesterschule, welche die Menschheit auf die Ausgleichung
vertröstet, die die wirtschaftlichen Mißstüude durch das naturgemäße Walten
der Gesetze der Vertragsfreiheit und der Preisbildung durch Nachfrage und
Angebot finden sollen, diese Lehre erweist sich in keinem Punkte so hinfällig,
so trügerisch und trostlos als gerade bei dem Arbeitslohn. Denn ein vermin¬
dertes oder wenigstens ein zurückbleibendes Angebot von Arbeitern wird durch
die fortwährende Zunahme der Bevölkerung ausgeglichen. Wo gleichwohl einmal
in einer beschränkten Örtlichkeit wirklicher Mangel an Arbeitern entstehen sollte,
da findet infolge der außerordentlichen Entwicklung unsrer räumlichen und
geistigen Verkehrscmftcilten alsbald ein Zuströmen arbeitsuchender Menschen
statt, sei es, daß sie von den Arbeitgebern gerufen werden, welche auf den
steigenden Lohn drücken wollen, sei es, daß sie aus eignem Antrieb kommen,
weil sie von der vermehrten Nachfrage Nutzen ziehen wollen.

Nun lehrt freilich die Schule (Malthus), daß solches Elend, wie es ein
ungenügender Arbeitslohn mit der Zeit erzeugt, eines jener repressiven Heil¬
mittel sei, welche der an und für sich naturgesetzlich fortschreitenden Bevölkerungs¬
zunahme steuern. Malthus giebt mit großartiger Ruhe, welche dem Menschen¬
freunde Schauder erregt, das Rezept, durch welches die Arbeiter zu einer
Beschränkung des Angebots ihrer Kräfte gelangen können: „Die Produktivkraft
des Menschengeschlechtes, sagt er, ist derjenigen der Erde sin betreff der Nahrungs-
mittelj so endlos überlegen, daß, wenn jene nicht durch zuvorkommende Hemm¬
nisse j geschlechtliche Enthaltsamkeit^ gezügelt wird, ein unzeitiger Tod in einer
oder der andern Gestalt die Menschen dahinraffen muß. Die Laster der Menschen
sind kluge Knappen der Entvölkerung. Sie sind gleichsam die leichten Truppen
in der großen Verheerungsarmee und beenden nicht selten allein schon das
schreckliche Geschäft. Gelingt es ihnen nicht, dann treten ungesunde Jahre,
Seuchen u. dergl. in fürchterlicher Gestalt hervor. Ist der Sieg noch nicht
vollkommen, dann schreitet zuletzt das unwiderstehliche Ungeheuer Hungersnot
hervor, das mit einem Schlage die üppige Volksmenge niederwirft und der
vorhandenen Menge der Nahrungsmittel gleichmacht." Malthus belehrt uns
weiter über die tröstliche Ausgleichung in dem Walten unerbittlicher Natur¬
gesetze, indem er sagt: „Mehrere reiche Ernten bereiten eine Hungersnot vor,
denn wohlfeile und fruchtbare Jahre verleiten eine Menge Menschen zum Hei¬
raten, sodaß bald darauf schon ein mittelmäßiges Jahr Mangel erzeugen kann.
Tölliche Epidemien haben oft ungemein gesunde Jahre zur Folge, weil die
vorhergegangene Seuche die meisten schwachen und schadhaften Körper wegrafft;
der Gewinn an Raum und Nahrung des gemeinen Mannes mehrt sich, da ihm


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[0513] Zur Revision mcinchosterlicher Lehren. teres Moment mit, welches außerhalb des Prozesses der Gütererzeugung liegt, nämlich die Volksvermehrung. 6. Die Lehre der Manchesterschule, welche die Menschheit auf die Ausgleichung vertröstet, die die wirtschaftlichen Mißstüude durch das naturgemäße Walten der Gesetze der Vertragsfreiheit und der Preisbildung durch Nachfrage und Angebot finden sollen, diese Lehre erweist sich in keinem Punkte so hinfällig, so trügerisch und trostlos als gerade bei dem Arbeitslohn. Denn ein vermin¬ dertes oder wenigstens ein zurückbleibendes Angebot von Arbeitern wird durch die fortwährende Zunahme der Bevölkerung ausgeglichen. Wo gleichwohl einmal in einer beschränkten Örtlichkeit wirklicher Mangel an Arbeitern entstehen sollte, da findet infolge der außerordentlichen Entwicklung unsrer räumlichen und geistigen Verkehrscmftcilten alsbald ein Zuströmen arbeitsuchender Menschen statt, sei es, daß sie von den Arbeitgebern gerufen werden, welche auf den steigenden Lohn drücken wollen, sei es, daß sie aus eignem Antrieb kommen, weil sie von der vermehrten Nachfrage Nutzen ziehen wollen. Nun lehrt freilich die Schule (Malthus), daß solches Elend, wie es ein ungenügender Arbeitslohn mit der Zeit erzeugt, eines jener repressiven Heil¬ mittel sei, welche der an und für sich naturgesetzlich fortschreitenden Bevölkerungs¬ zunahme steuern. Malthus giebt mit großartiger Ruhe, welche dem Menschen¬ freunde Schauder erregt, das Rezept, durch welches die Arbeiter zu einer Beschränkung des Angebots ihrer Kräfte gelangen können: „Die Produktivkraft des Menschengeschlechtes, sagt er, ist derjenigen der Erde sin betreff der Nahrungs- mittelj so endlos überlegen, daß, wenn jene nicht durch zuvorkommende Hemm¬ nisse j geschlechtliche Enthaltsamkeit^ gezügelt wird, ein unzeitiger Tod in einer oder der andern Gestalt die Menschen dahinraffen muß. Die Laster der Menschen sind kluge Knappen der Entvölkerung. Sie sind gleichsam die leichten Truppen in der großen Verheerungsarmee und beenden nicht selten allein schon das schreckliche Geschäft. Gelingt es ihnen nicht, dann treten ungesunde Jahre, Seuchen u. dergl. in fürchterlicher Gestalt hervor. Ist der Sieg noch nicht vollkommen, dann schreitet zuletzt das unwiderstehliche Ungeheuer Hungersnot hervor, das mit einem Schlage die üppige Volksmenge niederwirft und der vorhandenen Menge der Nahrungsmittel gleichmacht." Malthus belehrt uns weiter über die tröstliche Ausgleichung in dem Walten unerbittlicher Natur¬ gesetze, indem er sagt: „Mehrere reiche Ernten bereiten eine Hungersnot vor, denn wohlfeile und fruchtbare Jahre verleiten eine Menge Menschen zum Hei¬ raten, sodaß bald darauf schon ein mittelmäßiges Jahr Mangel erzeugen kann. Tölliche Epidemien haben oft ungemein gesunde Jahre zur Folge, weil die vorhergegangene Seuche die meisten schwachen und schadhaften Körper wegrafft; der Gewinn an Raum und Nahrung des gemeinen Mannes mehrt sich, da ihm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/513>, abgerufen am 12.11.2024.