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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die Aoimnilitoiien.

Da schlug die Klvsteruhr mit ihrem vertrauten Schalle, der die Jünglinge
sonst in die Hörsäle getrieben hatte. Nun machte sich der "blasse Heinrich"
ernstlich an die Kopfarbeit; Erinnerungsbilder, Personen, Thatsachen, Erfahrungen,
den ganzen Stoff, den er für seine Abendaufgabe gesammelt hatte, ordnete er,
und als die Uhr einViertel schlug, war die Sichtung vollzogen, der Überblick
gewonnen. Darauf ging er die einzelnen Abschnitte durch, und siehe da, als
es halb schlug, hatte er den Bau des Ganzen i" seinen Gliedern vor sich. Eine
Viertelstunde noch verwendete er darauf, den Vortrug durchzusprechen und zu¬
gleich die Stimmmittel zu verteilen.

Mit dem Schlage dreiviertel erhob er sich. Er hatte ein weites Gebiet der
Gedankenwelt durchmessen und die Verstimmung, die ihn kurz vorher im Banne
gehalten, hatte sich verflüchtigt. Alle Unbill des Tages, auch die Drangsale
eines Menschenlebens kamen ihm klein vor -- auflösbar selbst die Störungen,
die der gesetzmäßig fortschreitenden Kulturentwicklung eines ganzen Volkes ent¬
gegentreten und doch nur scheinbar den Zeitgeist trüben können.




8.

Der "blasse Heinrich" war die alte Steintreppe, die vom Wasser her aus
den Arkaden in die Klosterschule führte, hinaufgestiegen und betrat uun den
Schulhvf, der einsam in Hellem Mondschein dalag. Aber wer sind die drei
Gestalten dort? Ist's möglich? Ist das nicht Barbara? -- Ja, sie war es,
und sofort hatte auch sie den von der Treppe her Auftauchenden mit ihren
scharfen, weithin blickenden Augen erkannt.

Dort! flüsterte sie, indem sie ihrem Vater die Richtung angab.

Ja wahrlich, da ist er! rief Pipin.

Da ist er endlich! fiel auch Cohn ein, und da standen sie auch alle drei
schon vor ihm.

Endlich! ließ ihn der stets pflichteifrige Freund tadelnd an, aber dabei
hätte er den Aufgefundenen am liebsten in die Arme geschlossen. Jetzt stellte
er nur als Arzt mit Hand und Auge fest, daß seine Besorgnis unbegründet
gewesen sei und der "blasse Heinrich" sich in völlig beruhigten Zustande be¬
finde. Drinnen, sagte er hastig, sind schon alle in der äußerste" Verlegenheit
und Besorgnis um dich und den Vortrag, alles ist ratlos, wo bleibst du denn?

Aus sieben Uhr hatte ich mich versprochen, um dreiviertel sieben bin ich
zur Stelle, erwiederte der "blasse Heinrich," was wollt ihr also? Ich mußte
deu Vortrag doch überlegen, mich rüsten, damit ich uns nicht bloßstelltc.

Wieder "falsch bezichtigt," rannte Cohn dem Pipin zu, und sagte dann
zum "blassen Heinrich": Aber wo warst du denn geblieben? Wir suchten dich
in allen Richtungen vergeblich.

Wo sonst, bekam er zur Antwort, als in den Arkaden!


Grenzboten I. 1N8L. 4ö
Die Aoimnilitoiien.

Da schlug die Klvsteruhr mit ihrem vertrauten Schalle, der die Jünglinge
sonst in die Hörsäle getrieben hatte. Nun machte sich der „blasse Heinrich"
ernstlich an die Kopfarbeit; Erinnerungsbilder, Personen, Thatsachen, Erfahrungen,
den ganzen Stoff, den er für seine Abendaufgabe gesammelt hatte, ordnete er,
und als die Uhr einViertel schlug, war die Sichtung vollzogen, der Überblick
gewonnen. Darauf ging er die einzelnen Abschnitte durch, und siehe da, als
es halb schlug, hatte er den Bau des Ganzen i» seinen Gliedern vor sich. Eine
Viertelstunde noch verwendete er darauf, den Vortrug durchzusprechen und zu¬
gleich die Stimmmittel zu verteilen.

Mit dem Schlage dreiviertel erhob er sich. Er hatte ein weites Gebiet der
Gedankenwelt durchmessen und die Verstimmung, die ihn kurz vorher im Banne
gehalten, hatte sich verflüchtigt. Alle Unbill des Tages, auch die Drangsale
eines Menschenlebens kamen ihm klein vor — auflösbar selbst die Störungen,
die der gesetzmäßig fortschreitenden Kulturentwicklung eines ganzen Volkes ent¬
gegentreten und doch nur scheinbar den Zeitgeist trüben können.




8.

Der „blasse Heinrich" war die alte Steintreppe, die vom Wasser her aus
den Arkaden in die Klosterschule führte, hinaufgestiegen und betrat uun den
Schulhvf, der einsam in Hellem Mondschein dalag. Aber wer sind die drei
Gestalten dort? Ist's möglich? Ist das nicht Barbara? — Ja, sie war es,
und sofort hatte auch sie den von der Treppe her Auftauchenden mit ihren
scharfen, weithin blickenden Augen erkannt.

Dort! flüsterte sie, indem sie ihrem Vater die Richtung angab.

Ja wahrlich, da ist er! rief Pipin.

Da ist er endlich! fiel auch Cohn ein, und da standen sie auch alle drei
schon vor ihm.

Endlich! ließ ihn der stets pflichteifrige Freund tadelnd an, aber dabei
hätte er den Aufgefundenen am liebsten in die Arme geschlossen. Jetzt stellte
er nur als Arzt mit Hand und Auge fest, daß seine Besorgnis unbegründet
gewesen sei und der „blasse Heinrich" sich in völlig beruhigten Zustande be¬
finde. Drinnen, sagte er hastig, sind schon alle in der äußerste» Verlegenheit
und Besorgnis um dich und den Vortrag, alles ist ratlos, wo bleibst du denn?

Aus sieben Uhr hatte ich mich versprochen, um dreiviertel sieben bin ich
zur Stelle, erwiederte der „blasse Heinrich," was wollt ihr also? Ich mußte
deu Vortrag doch überlegen, mich rüsten, damit ich uns nicht bloßstelltc.

Wieder „falsch bezichtigt," rannte Cohn dem Pipin zu, und sagte dann
zum „blassen Heinrich": Aber wo warst du denn geblieben? Wir suchten dich
in allen Richtungen vergeblich.

Wo sonst, bekam er zur Antwort, als in den Arkaden!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/373>, abgerufen am 12.11.2024.