Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Analekten zur Geschichte der neueren deutschen Kunst.
von H. A. Lier.

er die verhältnismäßig große Anzahl von Werken über die Ge¬
schichte der neueren Kunst vor Augen hat, der möchte wohl glauben,
daß sich aus ihnen ein sicheres und wenigstens annähernd voll¬
ständiges Bild dieser Kunst gewinnen lasse. Wie aber jeder Sach¬
kundige weiß, ist dies leider nicht der Fall. Was wir aus jenen
Darstellungen lernen können, ist in der That nicht viel mehr als eine im ganzen
und großen richtige Anschauung über den bisherigen Gang der Entwicklung,
nicht aber eine in allen Teilen gleichmäßig auf sichere Thatsachen begründete
objektive Geschichte. Freilich ist das Verlangen nach einer solchen wirklichen
Geschichte gegenwärtig noch unerfüllbar, da wir bei genauerer Prüfung bekennen
müssen, daß unser Wissen auf diesem Gebiete noch die größten Lücken zeigt.
Wenn es sich darum handelt, auch nur bei den hervorragendsten Künstlern einen
tiefern Einblick in das Werden und Wachsen ihrer Schöpfungen zu gewinne"
und die Einwirkungen zu bestimmen, die für ihre Entwicklung maßgebend gewesen
sind, so geben uns die bisherigen Kunstgeschichten in der Regel keinen befriedi¬
genden Aufschluß; wir müssen uns statt dessen meistens mit einer Reihe sub¬
jektiver Urteile abspeisen lassen, deren Richtigkeit oft in umgekehrtem Verhält¬
nisse zu der Sicherheit steht, mit der sie vorgetragen werden.

Diese Erfahrung wird jeder gemacht haben, der das Glück gehabt hat,
jemals mit Künstlern intimer zu Verkehren, und der sich auf diese Weise über
ihr Wirken und Wollen genauer unterrichtet hat. Er wird dann immer finden,
daß die Darstellung der gangbaren Handbücher von dem, was er aus eigner
Anschauung weiß, abweicht, und zwar nicht nur in Einzelheiten, sondern oft
gerade in der Hauptsache. Ist aber einmal auf diese Weise in dem Leser der
Zweifel rege geworden, dann dehnt er denselben unwillkürlich auch auf diejenigen
Partien eines Buches aus, für welche ihm eine Information aus persönlicher
Bekanntschaft nicht zur Seite steht. Am allerwenigsten aber wird er geneigt
sein, sein skeptisches Verhalten gegen die landläufigen Kuustausichten aufzugeben,
wenn er sieht, wie gerade diejenigen, welche nicht im mindesten historisch geschult
sind und auf ihre Schilderung der neuern Kunst die allergeringste Sorgfalt
verwende", den Ton absoluter Unfehlbarkeit anschlagen und sich dem Wahne
hingeben, die Welt müsse ihr einseitiges Kunsträsonncment als eine Offenbarung
höchster Weisheit hinnehmen.


Analekten zur Geschichte der neueren deutschen Kunst.
von H. A. Lier.

er die verhältnismäßig große Anzahl von Werken über die Ge¬
schichte der neueren Kunst vor Augen hat, der möchte wohl glauben,
daß sich aus ihnen ein sicheres und wenigstens annähernd voll¬
ständiges Bild dieser Kunst gewinnen lasse. Wie aber jeder Sach¬
kundige weiß, ist dies leider nicht der Fall. Was wir aus jenen
Darstellungen lernen können, ist in der That nicht viel mehr als eine im ganzen
und großen richtige Anschauung über den bisherigen Gang der Entwicklung,
nicht aber eine in allen Teilen gleichmäßig auf sichere Thatsachen begründete
objektive Geschichte. Freilich ist das Verlangen nach einer solchen wirklichen
Geschichte gegenwärtig noch unerfüllbar, da wir bei genauerer Prüfung bekennen
müssen, daß unser Wissen auf diesem Gebiete noch die größten Lücken zeigt.
Wenn es sich darum handelt, auch nur bei den hervorragendsten Künstlern einen
tiefern Einblick in das Werden und Wachsen ihrer Schöpfungen zu gewinne»
und die Einwirkungen zu bestimmen, die für ihre Entwicklung maßgebend gewesen
sind, so geben uns die bisherigen Kunstgeschichten in der Regel keinen befriedi¬
genden Aufschluß; wir müssen uns statt dessen meistens mit einer Reihe sub¬
jektiver Urteile abspeisen lassen, deren Richtigkeit oft in umgekehrtem Verhält¬
nisse zu der Sicherheit steht, mit der sie vorgetragen werden.

Diese Erfahrung wird jeder gemacht haben, der das Glück gehabt hat,
jemals mit Künstlern intimer zu Verkehren, und der sich auf diese Weise über
ihr Wirken und Wollen genauer unterrichtet hat. Er wird dann immer finden,
daß die Darstellung der gangbaren Handbücher von dem, was er aus eigner
Anschauung weiß, abweicht, und zwar nicht nur in Einzelheiten, sondern oft
gerade in der Hauptsache. Ist aber einmal auf diese Weise in dem Leser der
Zweifel rege geworden, dann dehnt er denselben unwillkürlich auch auf diejenigen
Partien eines Buches aus, für welche ihm eine Information aus persönlicher
Bekanntschaft nicht zur Seite steht. Am allerwenigsten aber wird er geneigt
sein, sein skeptisches Verhalten gegen die landläufigen Kuustausichten aufzugeben,
wenn er sieht, wie gerade diejenigen, welche nicht im mindesten historisch geschult
sind und auf ihre Schilderung der neuern Kunst die allergeringste Sorgfalt
verwende», den Ton absoluter Unfehlbarkeit anschlagen und sich dem Wahne
hingeben, die Welt müsse ihr einseitiges Kunsträsonncment als eine Offenbarung
höchster Weisheit hinnehmen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0196" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194872"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Analekten zur Geschichte der neueren deutschen Kunst.<lb/><note type="byline"> von H. A. Lier.</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_611"> er die verhältnismäßig große Anzahl von Werken über die Ge¬<lb/>
schichte der neueren Kunst vor Augen hat, der möchte wohl glauben,<lb/>
daß sich aus ihnen ein sicheres und wenigstens annähernd voll¬<lb/>
ständiges Bild dieser Kunst gewinnen lasse. Wie aber jeder Sach¬<lb/>
kundige weiß, ist dies leider nicht der Fall. Was wir aus jenen<lb/>
Darstellungen lernen können, ist in der That nicht viel mehr als eine im ganzen<lb/>
und großen richtige Anschauung über den bisherigen Gang der Entwicklung,<lb/>
nicht aber eine in allen Teilen gleichmäßig auf sichere Thatsachen begründete<lb/>
objektive Geschichte. Freilich ist das Verlangen nach einer solchen wirklichen<lb/>
Geschichte gegenwärtig noch unerfüllbar, da wir bei genauerer Prüfung bekennen<lb/>
müssen, daß unser Wissen auf diesem Gebiete noch die größten Lücken zeigt.<lb/>
Wenn es sich darum handelt, auch nur bei den hervorragendsten Künstlern einen<lb/>
tiefern Einblick in das Werden und Wachsen ihrer Schöpfungen zu gewinne»<lb/>
und die Einwirkungen zu bestimmen, die für ihre Entwicklung maßgebend gewesen<lb/>
sind, so geben uns die bisherigen Kunstgeschichten in der Regel keinen befriedi¬<lb/>
genden Aufschluß; wir müssen uns statt dessen meistens mit einer Reihe sub¬<lb/>
jektiver Urteile abspeisen lassen, deren Richtigkeit oft in umgekehrtem Verhält¬<lb/>
nisse zu der Sicherheit steht, mit der sie vorgetragen werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_612"> Diese Erfahrung wird jeder gemacht haben, der das Glück gehabt hat,<lb/>
jemals mit Künstlern intimer zu Verkehren, und der sich auf diese Weise über<lb/>
ihr Wirken und Wollen genauer unterrichtet hat. Er wird dann immer finden,<lb/>
daß die Darstellung der gangbaren Handbücher von dem, was er aus eigner<lb/>
Anschauung weiß, abweicht, und zwar nicht nur in Einzelheiten, sondern oft<lb/>
gerade in der Hauptsache. Ist aber einmal auf diese Weise in dem Leser der<lb/>
Zweifel rege geworden, dann dehnt er denselben unwillkürlich auch auf diejenigen<lb/>
Partien eines Buches aus, für welche ihm eine Information aus persönlicher<lb/>
Bekanntschaft nicht zur Seite steht. Am allerwenigsten aber wird er geneigt<lb/>
sein, sein skeptisches Verhalten gegen die landläufigen Kuustausichten aufzugeben,<lb/>
wenn er sieht, wie gerade diejenigen, welche nicht im mindesten historisch geschult<lb/>
sind und auf ihre Schilderung der neuern Kunst die allergeringste Sorgfalt<lb/>
verwende», den Ton absoluter Unfehlbarkeit anschlagen und sich dem Wahne<lb/>
hingeben, die Welt müsse ihr einseitiges Kunsträsonncment als eine Offenbarung<lb/>
höchster Weisheit hinnehmen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0196] Analekten zur Geschichte der neueren deutschen Kunst. von H. A. Lier. er die verhältnismäßig große Anzahl von Werken über die Ge¬ schichte der neueren Kunst vor Augen hat, der möchte wohl glauben, daß sich aus ihnen ein sicheres und wenigstens annähernd voll¬ ständiges Bild dieser Kunst gewinnen lasse. Wie aber jeder Sach¬ kundige weiß, ist dies leider nicht der Fall. Was wir aus jenen Darstellungen lernen können, ist in der That nicht viel mehr als eine im ganzen und großen richtige Anschauung über den bisherigen Gang der Entwicklung, nicht aber eine in allen Teilen gleichmäßig auf sichere Thatsachen begründete objektive Geschichte. Freilich ist das Verlangen nach einer solchen wirklichen Geschichte gegenwärtig noch unerfüllbar, da wir bei genauerer Prüfung bekennen müssen, daß unser Wissen auf diesem Gebiete noch die größten Lücken zeigt. Wenn es sich darum handelt, auch nur bei den hervorragendsten Künstlern einen tiefern Einblick in das Werden und Wachsen ihrer Schöpfungen zu gewinne» und die Einwirkungen zu bestimmen, die für ihre Entwicklung maßgebend gewesen sind, so geben uns die bisherigen Kunstgeschichten in der Regel keinen befriedi¬ genden Aufschluß; wir müssen uns statt dessen meistens mit einer Reihe sub¬ jektiver Urteile abspeisen lassen, deren Richtigkeit oft in umgekehrtem Verhält¬ nisse zu der Sicherheit steht, mit der sie vorgetragen werden. Diese Erfahrung wird jeder gemacht haben, der das Glück gehabt hat, jemals mit Künstlern intimer zu Verkehren, und der sich auf diese Weise über ihr Wirken und Wollen genauer unterrichtet hat. Er wird dann immer finden, daß die Darstellung der gangbaren Handbücher von dem, was er aus eigner Anschauung weiß, abweicht, und zwar nicht nur in Einzelheiten, sondern oft gerade in der Hauptsache. Ist aber einmal auf diese Weise in dem Leser der Zweifel rege geworden, dann dehnt er denselben unwillkürlich auch auf diejenigen Partien eines Buches aus, für welche ihm eine Information aus persönlicher Bekanntschaft nicht zur Seite steht. Am allerwenigsten aber wird er geneigt sein, sein skeptisches Verhalten gegen die landläufigen Kuustausichten aufzugeben, wenn er sieht, wie gerade diejenigen, welche nicht im mindesten historisch geschult sind und auf ihre Schilderung der neuern Kunst die allergeringste Sorgfalt verwende», den Ton absoluter Unfehlbarkeit anschlagen und sich dem Wahne hingeben, die Welt müsse ihr einseitiges Kunsträsonncment als eine Offenbarung höchster Weisheit hinnehmen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/196
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/196>, abgerufen am 12.11.2024.