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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Notizen.
Johann Heinrich von Thüren,

Es mag wohl sein, daß unsre Zeit
schnelllebiger geworden ist, als es noch die unsrer Großväter war; jedenfalls ist
sie selbstbewußter, kühner und -- oberflächlicher geworden. Wer die alljährlichen
dickleibigen Bände des ReichsgcsetMattes und der preußischen Gesetzsammlung be¬
trachtet, der wird den Standpunkt Savignys, daß unsre Zeit keinen Beruf für die
Gesetzgebung habe, für einen überwundnen halten. Und doch wäre zu wünschen,
daß nur eines unsrer modernen Gesetze die Stetigkeit und den Einfluß besäße,
wie jene alten, lange durchdachten und wohlerwogenen Verordnungen des viel-
geschmähten Absolutismus. Wer die zahllosen Bücher und Broschüren über¬
schaut -- Leser aller kann mir ein Rentier von dein Alter Methusalems sein ---,
mit denen fast täglich der Büchertisch über die soziale Frage, über die Lage der
Landwirtschaft und sonstige zeitbewegcnde Fragen überschüttet wird -- der sollte
glauben, daß die Lösung des Problems garnicht so schwer sein und unter den
unzähligen Versuchen doch ein gelungener sein würde. Aber wieviele lohnen
nicht einmal den Blick, der hineingeworfen wird; einseitige, flüchtige Beobachtungen,
vielleicht auch geistreiche Einfälle, aus verschleimen Ackern Zusammcngepflügtes --
das ist der Inhalt der Mehrzahl, ganz abgesehen von den Anpreisungen der
Charlatans und Wunderdoktoren, wie sie sich in den berufsmäßigen Leitartikel"
Schreibern der Tagespresse darstellen.

Gegenüber diesen Erscheinungen der Gegenwart ist es eine wahrhafte Er-
guickung des Geistes wie des Herzens, in der Biographie Johann Heinrichs
von Thüren ein Forscherlcbcn vor sich aufgerollt zu sehen, das aus dem engen
Berufskreise nach jahrelangen, sorgfältigsten und peinlichsten Untersuchungen zu
bahnbrechenden Ergebnissen gelangte, und doch daneben ein harmonisches, fest in sich
abgeschlossenes Gesamtbild bietet. Zum erstenmale hat im Jahre 1863 Schumacher,
ein Hausgenosse und Schüler Thurms, dessen Leben beschrieben und eine Reihe
seiner Briefe herausgegeben. Vou dieser Lebensbeschreibung ist zur Erinnerung
an seinen hundertjährigen Geburtstag -- Thüren ist am 24. Juni 1733 im
Jeverlande geboren -- jetzt eine zweite mit dem Bilde Thurms geschmückte Auf¬
lage erschienen (Rostock und Ludwigslust, Verlag von Hinstorff). Die Biographie
an sich nimmt nnr einen kurzen Raum ein; es ist das Leben eines einfachen
Gutsbesitzers und Forschers, der wacker arbeiten und sich quälen muß, um sich
seine Existenz zu erringen, der aber nicht müde wird, einen aus seinen Er¬
fahrungen gewonnenen Gedanken bis in den letzten Ursprung mit unerschöpflicher
Genauigkeit und mathematischer Schärfe -- Thüren war von Jugend ans mit
Vorliebe der Mathematik ergeben -- zu verfolgen. Dabei ein liebevoller Gatte,
ein sorgsamer, zärtlicher Vater, ein hingebender Freund, ein Mann von Herz für
die Leiden der kleinen Leute, ihr Berater und Wohlthäter. Die Briefe, haupt¬
sächlich an Mitglieder der Familie, namentlich den Bruder und Schwiegersohn
Christian von Büttel, gerichtet, zeigen uns nicht nur alle Seiten dieses herrliche"


Notizen.
Johann Heinrich von Thüren,

Es mag wohl sein, daß unsre Zeit
schnelllebiger geworden ist, als es noch die unsrer Großväter war; jedenfalls ist
sie selbstbewußter, kühner und — oberflächlicher geworden. Wer die alljährlichen
dickleibigen Bände des ReichsgcsetMattes und der preußischen Gesetzsammlung be¬
trachtet, der wird den Standpunkt Savignys, daß unsre Zeit keinen Beruf für die
Gesetzgebung habe, für einen überwundnen halten. Und doch wäre zu wünschen,
daß nur eines unsrer modernen Gesetze die Stetigkeit und den Einfluß besäße,
wie jene alten, lange durchdachten und wohlerwogenen Verordnungen des viel-
geschmähten Absolutismus. Wer die zahllosen Bücher und Broschüren über¬
schaut — Leser aller kann mir ein Rentier von dein Alter Methusalems sein —-,
mit denen fast täglich der Büchertisch über die soziale Frage, über die Lage der
Landwirtschaft und sonstige zeitbewegcnde Fragen überschüttet wird — der sollte
glauben, daß die Lösung des Problems garnicht so schwer sein und unter den
unzähligen Versuchen doch ein gelungener sein würde. Aber wieviele lohnen
nicht einmal den Blick, der hineingeworfen wird; einseitige, flüchtige Beobachtungen,
vielleicht auch geistreiche Einfälle, aus verschleimen Ackern Zusammcngepflügtes —
das ist der Inhalt der Mehrzahl, ganz abgesehen von den Anpreisungen der
Charlatans und Wunderdoktoren, wie sie sich in den berufsmäßigen Leitartikel»
Schreibern der Tagespresse darstellen.

Gegenüber diesen Erscheinungen der Gegenwart ist es eine wahrhafte Er-
guickung des Geistes wie des Herzens, in der Biographie Johann Heinrichs
von Thüren ein Forscherlcbcn vor sich aufgerollt zu sehen, das aus dem engen
Berufskreise nach jahrelangen, sorgfältigsten und peinlichsten Untersuchungen zu
bahnbrechenden Ergebnissen gelangte, und doch daneben ein harmonisches, fest in sich
abgeschlossenes Gesamtbild bietet. Zum erstenmale hat im Jahre 1863 Schumacher,
ein Hausgenosse und Schüler Thurms, dessen Leben beschrieben und eine Reihe
seiner Briefe herausgegeben. Vou dieser Lebensbeschreibung ist zur Erinnerung
an seinen hundertjährigen Geburtstag — Thüren ist am 24. Juni 1733 im
Jeverlande geboren — jetzt eine zweite mit dem Bilde Thurms geschmückte Auf¬
lage erschienen (Rostock und Ludwigslust, Verlag von Hinstorff). Die Biographie
an sich nimmt nnr einen kurzen Raum ein; es ist das Leben eines einfachen
Gutsbesitzers und Forschers, der wacker arbeiten und sich quälen muß, um sich
seine Existenz zu erringen, der aber nicht müde wird, einen aus seinen Er¬
fahrungen gewonnenen Gedanken bis in den letzten Ursprung mit unerschöpflicher
Genauigkeit und mathematischer Schärfe — Thüren war von Jugend ans mit
Vorliebe der Mathematik ergeben — zu verfolgen. Dabei ein liebevoller Gatte,
ein sorgsamer, zärtlicher Vater, ein hingebender Freund, ein Mann von Herz für
die Leiden der kleinen Leute, ihr Berater und Wohlthäter. Die Briefe, haupt¬
sächlich an Mitglieder der Familie, namentlich den Bruder und Schwiegersohn
Christian von Büttel, gerichtet, zeigen uns nicht nur alle Seiten dieses herrliche»


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[0638] Notizen. Johann Heinrich von Thüren, Es mag wohl sein, daß unsre Zeit schnelllebiger geworden ist, als es noch die unsrer Großväter war; jedenfalls ist sie selbstbewußter, kühner und — oberflächlicher geworden. Wer die alljährlichen dickleibigen Bände des ReichsgcsetMattes und der preußischen Gesetzsammlung be¬ trachtet, der wird den Standpunkt Savignys, daß unsre Zeit keinen Beruf für die Gesetzgebung habe, für einen überwundnen halten. Und doch wäre zu wünschen, daß nur eines unsrer modernen Gesetze die Stetigkeit und den Einfluß besäße, wie jene alten, lange durchdachten und wohlerwogenen Verordnungen des viel- geschmähten Absolutismus. Wer die zahllosen Bücher und Broschüren über¬ schaut — Leser aller kann mir ein Rentier von dein Alter Methusalems sein —-, mit denen fast täglich der Büchertisch über die soziale Frage, über die Lage der Landwirtschaft und sonstige zeitbewegcnde Fragen überschüttet wird — der sollte glauben, daß die Lösung des Problems garnicht so schwer sein und unter den unzähligen Versuchen doch ein gelungener sein würde. Aber wieviele lohnen nicht einmal den Blick, der hineingeworfen wird; einseitige, flüchtige Beobachtungen, vielleicht auch geistreiche Einfälle, aus verschleimen Ackern Zusammcngepflügtes — das ist der Inhalt der Mehrzahl, ganz abgesehen von den Anpreisungen der Charlatans und Wunderdoktoren, wie sie sich in den berufsmäßigen Leitartikel» Schreibern der Tagespresse darstellen. Gegenüber diesen Erscheinungen der Gegenwart ist es eine wahrhafte Er- guickung des Geistes wie des Herzens, in der Biographie Johann Heinrichs von Thüren ein Forscherlcbcn vor sich aufgerollt zu sehen, das aus dem engen Berufskreise nach jahrelangen, sorgfältigsten und peinlichsten Untersuchungen zu bahnbrechenden Ergebnissen gelangte, und doch daneben ein harmonisches, fest in sich abgeschlossenes Gesamtbild bietet. Zum erstenmale hat im Jahre 1863 Schumacher, ein Hausgenosse und Schüler Thurms, dessen Leben beschrieben und eine Reihe seiner Briefe herausgegeben. Vou dieser Lebensbeschreibung ist zur Erinnerung an seinen hundertjährigen Geburtstag — Thüren ist am 24. Juni 1733 im Jeverlande geboren — jetzt eine zweite mit dem Bilde Thurms geschmückte Auf¬ lage erschienen (Rostock und Ludwigslust, Verlag von Hinstorff). Die Biographie an sich nimmt nnr einen kurzen Raum ein; es ist das Leben eines einfachen Gutsbesitzers und Forschers, der wacker arbeiten und sich quälen muß, um sich seine Existenz zu erringen, der aber nicht müde wird, einen aus seinen Er¬ fahrungen gewonnenen Gedanken bis in den letzten Ursprung mit unerschöpflicher Genauigkeit und mathematischer Schärfe — Thüren war von Jugend ans mit Vorliebe der Mathematik ergeben — zu verfolgen. Dabei ein liebevoller Gatte, ein sorgsamer, zärtlicher Vater, ein hingebender Freund, ein Mann von Herz für die Leiden der kleinen Leute, ihr Berater und Wohlthäter. Die Briefe, haupt¬ sächlich an Mitglieder der Familie, namentlich den Bruder und Schwiegersohn Christian von Büttel, gerichtet, zeigen uns nicht nur alle Seiten dieses herrliche»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/638>, abgerufen am 27.06.2024.