Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite


Gin Wort an die Presse.

le Gegenwart sieht sich in gewisser Beziehung ungefähr in der
Lage eines Menschen, der ein Besitztum von einem Vorfahren
mit gutem Herzen, unklaren Kopf und schwachem Willen geerbt
hat. Da der Verstorbene Leben und Lebenlassen zu seinem Grund¬
satz erhoben hatte, nicht gut etwas abschlagen konnte, ungern
rechnete und sich um die Zukunft nicht sorgte, so ist der schöne Besitz überlastet,
die Disziplin gelockert und, die Leute sind gewohnt, sich allerlei Freiheiten heraus¬
zunehmen. Der Erbe erkennt nun, daß so nicht fortzuwirtschasten wäre, er
muß sich bemühen, wieder Ordnung herzustellen, Einnahmen und Allsgaben in
das richtige Verhältnis zu bringen, auf strenger Pflichterfüllung zu bestehen,
eingerissenen Mißbräuchen zu steuern. Darob natürlich große Entrüstung, bittre
Klagen über Schmälerung angeborner oder wohlerworbner Rechte. Er hat gut
predigen: Was ich thue, geschieht auch in euerm Interesse, auch eure Existenz
hängt von denk Gedeihen des Ganzen ab. Begreifen würden das die meisten
wohl, aber im Wirtshause sitzt der entlassene Amtsschreiber, der ihnen eindring¬
lich auseinandersetzt, daß sie unterdrückt, betrogen und bestohlen werden, daß
der neue Herr ein Tyrann sei u. s. w. Und der verstehts ja, dem muß man
glauben, was man übrigens so gern glaubt.

Die schlimme Erbschaft, mit welcher die Gegenwart sich abzufinden hat,
sind politische Glaubenslehren, die im vorigen Jahrhundert in die Welt gesetzt
und seitdem rastlos verbreitet worden sind, und die nun fast überall unbedingt
geglaubt werden. Hier gedrängt, da gezwungen, dort freiwillig haben die Regie¬
rungen aller West- und mitteleuropäischen Staateil sich nach und nach zu jenen
Lehren bekannt, Serben und Bulgaren haben deren Anerkennung erlangt, und
wäre es nach dem großen Midhnt und der liberalen Journalistik gegangen, so


Grenzboten I- 1


Gin Wort an die Presse.

le Gegenwart sieht sich in gewisser Beziehung ungefähr in der
Lage eines Menschen, der ein Besitztum von einem Vorfahren
mit gutem Herzen, unklaren Kopf und schwachem Willen geerbt
hat. Da der Verstorbene Leben und Lebenlassen zu seinem Grund¬
satz erhoben hatte, nicht gut etwas abschlagen konnte, ungern
rechnete und sich um die Zukunft nicht sorgte, so ist der schöne Besitz überlastet,
die Disziplin gelockert und, die Leute sind gewohnt, sich allerlei Freiheiten heraus¬
zunehmen. Der Erbe erkennt nun, daß so nicht fortzuwirtschasten wäre, er
muß sich bemühen, wieder Ordnung herzustellen, Einnahmen und Allsgaben in
das richtige Verhältnis zu bringen, auf strenger Pflichterfüllung zu bestehen,
eingerissenen Mißbräuchen zu steuern. Darob natürlich große Entrüstung, bittre
Klagen über Schmälerung angeborner oder wohlerworbner Rechte. Er hat gut
predigen: Was ich thue, geschieht auch in euerm Interesse, auch eure Existenz
hängt von denk Gedeihen des Ganzen ab. Begreifen würden das die meisten
wohl, aber im Wirtshause sitzt der entlassene Amtsschreiber, der ihnen eindring¬
lich auseinandersetzt, daß sie unterdrückt, betrogen und bestohlen werden, daß
der neue Herr ein Tyrann sei u. s. w. Und der verstehts ja, dem muß man
glauben, was man übrigens so gern glaubt.

Die schlimme Erbschaft, mit welcher die Gegenwart sich abzufinden hat,
sind politische Glaubenslehren, die im vorigen Jahrhundert in die Welt gesetzt
und seitdem rastlos verbreitet worden sind, und die nun fast überall unbedingt
geglaubt werden. Hier gedrängt, da gezwungen, dort freiwillig haben die Regie¬
rungen aller West- und mitteleuropäischen Staateil sich nach und nach zu jenen
Lehren bekannt, Serben und Bulgaren haben deren Anerkennung erlangt, und
wäre es nach dem großen Midhnt und der liberalen Journalistik gegangen, so


Grenzboten I- 1
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0011" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154894"/>
              <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341839_158199/figures/grenzboten_341839_158199_154894_000.jpg"/><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Gin Wort an die Presse.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_9"> le Gegenwart sieht sich in gewisser Beziehung ungefähr in der<lb/>
Lage eines Menschen, der ein Besitztum von einem Vorfahren<lb/>
mit gutem Herzen, unklaren Kopf und schwachem Willen geerbt<lb/>
hat. Da der Verstorbene Leben und Lebenlassen zu seinem Grund¬<lb/>
satz erhoben hatte, nicht gut etwas abschlagen konnte, ungern<lb/>
rechnete und sich um die Zukunft nicht sorgte, so ist der schöne Besitz überlastet,<lb/>
die Disziplin gelockert und, die Leute sind gewohnt, sich allerlei Freiheiten heraus¬<lb/>
zunehmen. Der Erbe erkennt nun, daß so nicht fortzuwirtschasten wäre, er<lb/>
muß sich bemühen, wieder Ordnung herzustellen, Einnahmen und Allsgaben in<lb/>
das richtige Verhältnis zu bringen, auf strenger Pflichterfüllung zu bestehen,<lb/>
eingerissenen Mißbräuchen zu steuern. Darob natürlich große Entrüstung, bittre<lb/>
Klagen über Schmälerung angeborner oder wohlerworbner Rechte. Er hat gut<lb/>
predigen: Was ich thue, geschieht auch in euerm Interesse, auch eure Existenz<lb/>
hängt von denk Gedeihen des Ganzen ab. Begreifen würden das die meisten<lb/>
wohl, aber im Wirtshause sitzt der entlassene Amtsschreiber, der ihnen eindring¬<lb/>
lich auseinandersetzt, daß sie unterdrückt, betrogen und bestohlen werden, daß<lb/>
der neue Herr ein Tyrann sei u. s. w. Und der verstehts ja, dem muß man<lb/>
glauben, was man übrigens so gern glaubt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_10" next="#ID_11"> Die schlimme Erbschaft, mit welcher die Gegenwart sich abzufinden hat,<lb/>
sind politische Glaubenslehren, die im vorigen Jahrhundert in die Welt gesetzt<lb/>
und seitdem rastlos verbreitet worden sind, und die nun fast überall unbedingt<lb/>
geglaubt werden. Hier gedrängt, da gezwungen, dort freiwillig haben die Regie¬<lb/>
rungen aller West- und mitteleuropäischen Staateil sich nach und nach zu jenen<lb/>
Lehren bekannt, Serben und Bulgaren haben deren Anerkennung erlangt, und<lb/>
wäre es nach dem großen Midhnt und der liberalen Journalistik gegangen, so</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I- 1</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0011] [Abbildung] Gin Wort an die Presse. le Gegenwart sieht sich in gewisser Beziehung ungefähr in der Lage eines Menschen, der ein Besitztum von einem Vorfahren mit gutem Herzen, unklaren Kopf und schwachem Willen geerbt hat. Da der Verstorbene Leben und Lebenlassen zu seinem Grund¬ satz erhoben hatte, nicht gut etwas abschlagen konnte, ungern rechnete und sich um die Zukunft nicht sorgte, so ist der schöne Besitz überlastet, die Disziplin gelockert und, die Leute sind gewohnt, sich allerlei Freiheiten heraus¬ zunehmen. Der Erbe erkennt nun, daß so nicht fortzuwirtschasten wäre, er muß sich bemühen, wieder Ordnung herzustellen, Einnahmen und Allsgaben in das richtige Verhältnis zu bringen, auf strenger Pflichterfüllung zu bestehen, eingerissenen Mißbräuchen zu steuern. Darob natürlich große Entrüstung, bittre Klagen über Schmälerung angeborner oder wohlerworbner Rechte. Er hat gut predigen: Was ich thue, geschieht auch in euerm Interesse, auch eure Existenz hängt von denk Gedeihen des Ganzen ab. Begreifen würden das die meisten wohl, aber im Wirtshause sitzt der entlassene Amtsschreiber, der ihnen eindring¬ lich auseinandersetzt, daß sie unterdrückt, betrogen und bestohlen werden, daß der neue Herr ein Tyrann sei u. s. w. Und der verstehts ja, dem muß man glauben, was man übrigens so gern glaubt. Die schlimme Erbschaft, mit welcher die Gegenwart sich abzufinden hat, sind politische Glaubenslehren, die im vorigen Jahrhundert in die Welt gesetzt und seitdem rastlos verbreitet worden sind, und die nun fast überall unbedingt geglaubt werden. Hier gedrängt, da gezwungen, dort freiwillig haben die Regie¬ rungen aller West- und mitteleuropäischen Staateil sich nach und nach zu jenen Lehren bekannt, Serben und Bulgaren haben deren Anerkennung erlangt, und wäre es nach dem großen Midhnt und der liberalen Journalistik gegangen, so Grenzboten I- 1

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/11
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/11>, abgerufen am 03.07.2024.