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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Notizen.
England und die Cholera.

Seit geraumer Zeit sieht Europa wieder einmal
die Cholera in seinen Grenzen, und wieder hat die Seuche, diesmal von einem
französischen Schiffe eingeschleppt und bis jetzt nur in Frankreich und Italien wütend,
erhebliche Opfer verschlungen. Bekannt ist, daß sie ihre Heimat in Ostindien hat,
weniger bekannt dagegen, daß eine der Hauptursachen ihrer Entstehung und Ver¬
breitung in dieser Weltgegend auf die englische Handelspolitik zurückzuführen ist,
die wiederholt auch für deren Weitervorschreiten nach Westen hin verantwortlich
gemacht werden mußte. Die Cholera entsteht nachweisbar aus dem Zusammen-
wirken natürlicher und künstlich geschaffener Uebelstände, und sie wird namentlich
durch die letzteren epidemisch. Jene sind Wasser und Luft in Snmpflnndschaften,
tropische Hitze und Menscheunnhäufungcu, diese bestehen vorzüglich in Hungers¬
nöten, die zum Genusse roher, unreifer und verdorbener Pflanzennahrung zwingen.
Die ostindische Natur für sich allein erzeugte zwar die Cholera, ließ sie aber nicht
zur weitverbreiteten Volksseuche werden. Dies bewirkte vielmehr der Hunger,
der seinerseits wieder, wenigstens zum guten Teil, durch Versündigung der eng¬
lischen Selbstsucht um dem ihr preisgegebenen indischen Volke hervorgerufen wurde.

Die Cholera wurde zuerst im Jahre 1731 an der Küste der ostindischen Pro¬
vinz Orissa, sowie in Kalkutta, dann 1733 zu Hardwar am oberen Ganges be¬
obachtet, fand aber keine sehr große Verbreitung und verschwand nach kurzer Zeit.
Erst 1817 trat sie wieder auf und wurde nun rasch zur weithin mordenden Epi¬
demie, da ihr inzwischen England den Boden bereitet und die Wege geebnet hatte.
Ostindien war, wie I)r. Petri in seiner Schrift "Die Ursache des Aussterbens der
Völker niederer Kultur" nachweist, im siebzehnten, sowie im achtzehnten Jahrhun¬
derte und bis ins neunzehnte hinein ein Land der Banmwollenweber, das mit seinen
Geweben einen großen Teil Europas versorgte und noch kurz nach Beginn unsers
Säkulums jährlich für 8^ Millionen Pfund Sterling solche Waaren allein nach
England. ausführte. Das hatte mit der Verordnung ein Ende, welche diese letzteren
mit einem Zollsatze von fünfzig Prozent ihres Wertes belegte, während nach ihr
englische, nach Ostindien exportirte Fabrikate nur mit 2^ Prozent zu verzollen
waren. Ostindien ist seitdem immer mehr ein Markt für die britischen Manufak¬
turen und daneben eine Plantage für britische Kaufleute geworden, die mit Opium
handelten. Die Existenz der Eingebornen hing vou jetzt an ganz vom Verlaufe
der Ernte ab. Fiel mit den kolossalen Spekulationen der englischen Finanzleute
eine Mißernte zusammen, so gab es Hungersnot, und das geschah von 1817 an
in manchem Jahrzehnt mehr als einmal, und die Folge war in der Regel, daß zu
gleicher Zeit die sonst uur lokal oder sporadisch auftretende Cholera einen epide¬
mischen Charakter annahm.

"Viele Millionen von Familien, heißt es in einem Aufsatze über unser" Gegen¬
stand, den v. Th. Stamm in der Wiener Medizinischen Zeitschrift (Ur. 41 bis 43)
veröffentlicht hat, hatten in Bengalen durch die dort einheimische, einst so berühmt
gewesene Handweberei ihren Broterwerb gehabt. Die ganz mit den Doktrinen der
Manchesterschule harmonircnde gewissenlose Dahinopferung dieser Industrie durch
die Einführung der billigen englischen Maschinenwaaren, die immer eingreifendere
Bedrückung und Bereicherungsgier, die Ausdehnung des Opiumbaues über bisher
uicht dazu benutzte fruchtbare Ländereien und die erbarmungslos eingetriebenen


Grenzboten IV. 1884. 61
Notizen.
England und die Cholera.

Seit geraumer Zeit sieht Europa wieder einmal
die Cholera in seinen Grenzen, und wieder hat die Seuche, diesmal von einem
französischen Schiffe eingeschleppt und bis jetzt nur in Frankreich und Italien wütend,
erhebliche Opfer verschlungen. Bekannt ist, daß sie ihre Heimat in Ostindien hat,
weniger bekannt dagegen, daß eine der Hauptursachen ihrer Entstehung und Ver¬
breitung in dieser Weltgegend auf die englische Handelspolitik zurückzuführen ist,
die wiederholt auch für deren Weitervorschreiten nach Westen hin verantwortlich
gemacht werden mußte. Die Cholera entsteht nachweisbar aus dem Zusammen-
wirken natürlicher und künstlich geschaffener Uebelstände, und sie wird namentlich
durch die letzteren epidemisch. Jene sind Wasser und Luft in Snmpflnndschaften,
tropische Hitze und Menscheunnhäufungcu, diese bestehen vorzüglich in Hungers¬
nöten, die zum Genusse roher, unreifer und verdorbener Pflanzennahrung zwingen.
Die ostindische Natur für sich allein erzeugte zwar die Cholera, ließ sie aber nicht
zur weitverbreiteten Volksseuche werden. Dies bewirkte vielmehr der Hunger,
der seinerseits wieder, wenigstens zum guten Teil, durch Versündigung der eng¬
lischen Selbstsucht um dem ihr preisgegebenen indischen Volke hervorgerufen wurde.

Die Cholera wurde zuerst im Jahre 1731 an der Küste der ostindischen Pro¬
vinz Orissa, sowie in Kalkutta, dann 1733 zu Hardwar am oberen Ganges be¬
obachtet, fand aber keine sehr große Verbreitung und verschwand nach kurzer Zeit.
Erst 1817 trat sie wieder auf und wurde nun rasch zur weithin mordenden Epi¬
demie, da ihr inzwischen England den Boden bereitet und die Wege geebnet hatte.
Ostindien war, wie I)r. Petri in seiner Schrift „Die Ursache des Aussterbens der
Völker niederer Kultur" nachweist, im siebzehnten, sowie im achtzehnten Jahrhun¬
derte und bis ins neunzehnte hinein ein Land der Banmwollenweber, das mit seinen
Geweben einen großen Teil Europas versorgte und noch kurz nach Beginn unsers
Säkulums jährlich für 8^ Millionen Pfund Sterling solche Waaren allein nach
England. ausführte. Das hatte mit der Verordnung ein Ende, welche diese letzteren
mit einem Zollsatze von fünfzig Prozent ihres Wertes belegte, während nach ihr
englische, nach Ostindien exportirte Fabrikate nur mit 2^ Prozent zu verzollen
waren. Ostindien ist seitdem immer mehr ein Markt für die britischen Manufak¬
turen und daneben eine Plantage für britische Kaufleute geworden, die mit Opium
handelten. Die Existenz der Eingebornen hing vou jetzt an ganz vom Verlaufe
der Ernte ab. Fiel mit den kolossalen Spekulationen der englischen Finanzleute
eine Mißernte zusammen, so gab es Hungersnot, und das geschah von 1817 an
in manchem Jahrzehnt mehr als einmal, und die Folge war in der Regel, daß zu
gleicher Zeit die sonst uur lokal oder sporadisch auftretende Cholera einen epide¬
mischen Charakter annahm.

„Viele Millionen von Familien, heißt es in einem Aufsatze über unser» Gegen¬
stand, den v. Th. Stamm in der Wiener Medizinischen Zeitschrift (Ur. 41 bis 43)
veröffentlicht hat, hatten in Bengalen durch die dort einheimische, einst so berühmt
gewesene Handweberei ihren Broterwerb gehabt. Die ganz mit den Doktrinen der
Manchesterschule harmonircnde gewissenlose Dahinopferung dieser Industrie durch
die Einführung der billigen englischen Maschinenwaaren, die immer eingreifendere
Bedrückung und Bereicherungsgier, die Ausdehnung des Opiumbaues über bisher
uicht dazu benutzte fruchtbare Ländereien und die erbarmungslos eingetriebenen


Grenzboten IV. 1884. 61
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[0489] Notizen. England und die Cholera. Seit geraumer Zeit sieht Europa wieder einmal die Cholera in seinen Grenzen, und wieder hat die Seuche, diesmal von einem französischen Schiffe eingeschleppt und bis jetzt nur in Frankreich und Italien wütend, erhebliche Opfer verschlungen. Bekannt ist, daß sie ihre Heimat in Ostindien hat, weniger bekannt dagegen, daß eine der Hauptursachen ihrer Entstehung und Ver¬ breitung in dieser Weltgegend auf die englische Handelspolitik zurückzuführen ist, die wiederholt auch für deren Weitervorschreiten nach Westen hin verantwortlich gemacht werden mußte. Die Cholera entsteht nachweisbar aus dem Zusammen- wirken natürlicher und künstlich geschaffener Uebelstände, und sie wird namentlich durch die letzteren epidemisch. Jene sind Wasser und Luft in Snmpflnndschaften, tropische Hitze und Menscheunnhäufungcu, diese bestehen vorzüglich in Hungers¬ nöten, die zum Genusse roher, unreifer und verdorbener Pflanzennahrung zwingen. Die ostindische Natur für sich allein erzeugte zwar die Cholera, ließ sie aber nicht zur weitverbreiteten Volksseuche werden. Dies bewirkte vielmehr der Hunger, der seinerseits wieder, wenigstens zum guten Teil, durch Versündigung der eng¬ lischen Selbstsucht um dem ihr preisgegebenen indischen Volke hervorgerufen wurde. Die Cholera wurde zuerst im Jahre 1731 an der Küste der ostindischen Pro¬ vinz Orissa, sowie in Kalkutta, dann 1733 zu Hardwar am oberen Ganges be¬ obachtet, fand aber keine sehr große Verbreitung und verschwand nach kurzer Zeit. Erst 1817 trat sie wieder auf und wurde nun rasch zur weithin mordenden Epi¬ demie, da ihr inzwischen England den Boden bereitet und die Wege geebnet hatte. Ostindien war, wie I)r. Petri in seiner Schrift „Die Ursache des Aussterbens der Völker niederer Kultur" nachweist, im siebzehnten, sowie im achtzehnten Jahrhun¬ derte und bis ins neunzehnte hinein ein Land der Banmwollenweber, das mit seinen Geweben einen großen Teil Europas versorgte und noch kurz nach Beginn unsers Säkulums jährlich für 8^ Millionen Pfund Sterling solche Waaren allein nach England. ausführte. Das hatte mit der Verordnung ein Ende, welche diese letzteren mit einem Zollsatze von fünfzig Prozent ihres Wertes belegte, während nach ihr englische, nach Ostindien exportirte Fabrikate nur mit 2^ Prozent zu verzollen waren. Ostindien ist seitdem immer mehr ein Markt für die britischen Manufak¬ turen und daneben eine Plantage für britische Kaufleute geworden, die mit Opium handelten. Die Existenz der Eingebornen hing vou jetzt an ganz vom Verlaufe der Ernte ab. Fiel mit den kolossalen Spekulationen der englischen Finanzleute eine Mißernte zusammen, so gab es Hungersnot, und das geschah von 1817 an in manchem Jahrzehnt mehr als einmal, und die Folge war in der Regel, daß zu gleicher Zeit die sonst uur lokal oder sporadisch auftretende Cholera einen epide¬ mischen Charakter annahm. „Viele Millionen von Familien, heißt es in einem Aufsatze über unser» Gegen¬ stand, den v. Th. Stamm in der Wiener Medizinischen Zeitschrift (Ur. 41 bis 43) veröffentlicht hat, hatten in Bengalen durch die dort einheimische, einst so berühmt gewesene Handweberei ihren Broterwerb gehabt. Die ganz mit den Doktrinen der Manchesterschule harmonircnde gewissenlose Dahinopferung dieser Industrie durch die Einführung der billigen englischen Maschinenwaaren, die immer eingreifendere Bedrückung und Bereicherungsgier, die Ausdehnung des Opiumbaues über bisher uicht dazu benutzte fruchtbare Ländereien und die erbarmungslos eingetriebenen Grenzboten IV. 1884. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/489>, abgerufen am 27.12.2024.