Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Literatur. musterhaft und von unschätzbarem Werte. Wir wüßten uicht, wie man lehrreicher Haus Wartenberg. Ein Roman von Oskar von Red Witz. Berlin, Wilhelm Hertz (Besscrsche Buchhandlung), 1884. Mit gemischten Gefühlen legt der Kritiker dieses Buch aus der Hand. Er Literatur. musterhaft und von unschätzbarem Werte. Wir wüßten uicht, wie man lehrreicher Haus Wartenberg. Ein Roman von Oskar von Red Witz. Berlin, Wilhelm Hertz (Besscrsche Buchhandlung), 1884. Mit gemischten Gefühlen legt der Kritiker dieses Buch aus der Hand. Er <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0446" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157371"/> <fw type="header" place="top"> Literatur.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1553" prev="#ID_1552"> musterhaft und von unschätzbarem Werte. Wir wüßten uicht, wie man lehrreicher<lb/> in das Wesen der Lyrik, der Ballade, der Fabel eingeführt werden könnte, als durch<lb/> die Art, in der Palleske die Fabeln Gellerts, einzelne Oden Klopstocks, Schillers<lb/> Taucher, den Erlkönig und den Fischer Goethes zum Zweck eines guten Vortrages<lb/> nnalysirt; wir wissen ja, was er unter einem solchen Vortrage verstand. Es ist<lb/> eine wirklich produktive Art der Kritik, eine von allem Doktrinären freie Ästhetik<lb/> in ihnen. Eine Sammlung solcher Analysen, eine in dieser Weise kommentirtc<lb/> Ausgabe von Schillers Gedichten müßte das Verständnis der Poesie mehr fördern<lb/> als sämtliche Schriften Düntzers oder seinesgleichen. Schade, daß Palleske tot ist!<lb/> Sicherlich hat er neben seiner Schiller-Biographie sich kein schöneres Denkmal setzen<lb/> können als mit seiner „Kunst des Vortrags."</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Haus Wartenberg. Ein Roman von Oskar von Red Witz. Berlin, Wilhelm Hertz<lb/> (Besscrsche Buchhandlung), 1884.</head><lb/> <p xml:id="ID_1554" next="#ID_1555"> Mit gemischten Gefühlen legt der Kritiker dieses Buch aus der Hand. Er<lb/> ist sehr Wohl überzeugt, soweit er den Geschmack des großen deutschen Publikums<lb/> kennt, daß dieser neue Roman des nunmehr auch zum Geiste der fortschrittlichen,<lb/> freien Wissenschaft bekehrten frommen Sängers der „Amarant!)" viele deutsche<lb/> Mädchen und Jungfrauen, auch viele Biedermänner entzücken wird. Er verhehlt sich<lb/> durchaus nicht die Tugenden dieses neuen Werkes, und er wird jenen braven Leuten<lb/> ihre Freude darau nicht verargen. Er würde sich, sollte er es persönlich mit einem<lb/> von ihnen zu thun haben, sehr wohl hüten, ihnen ihr Recht zur Begeisterung zu<lb/> bestreiten — denn bei gewissen Dingen fängt in der Kunst die Region des In¬<lb/> dividuellen an, das gleichwohl noch immer nicht absolut subjektiv ist, wo nicht mehr<lb/> mit allen über den Wert eines Werkes gestritten werden kann. Wie gut hat es<lb/> Redwitz verstanden, die schwachen Seiten jenes eben bezeichneten und glücklicher¬<lb/> weise für den Verleger so zahlreichen Publikums herauszufühlen und ihnen zu<lb/> schmeicheln! Sentimentalität, vage Begeisterung für das Gute, Schöne und Wahre,<lb/> für das nunmehr auch so glorreich erstandene deutsche Reich, eine, wenn man näher<lb/> zusieht, freilich etwas brüchige Versöhnung von gläubigem Christentum mit den<lb/> Ideen der neuen und besonders der Naturwissenschaften, ein schwärmerisches Reflektiren<lb/> über den hohen Flug derselben u. dergl. in. — das sind ja die Charakterzüge der<lb/> durchschnittlichen Bildung jenes Publikums, und das sind auch die Eigentümlichkeiten<lb/> der Redwitzschen Muse. Finden sich da nicht zwei gleichgesinnt^ Seelen? Zwar<lb/> wird auch manches der lieben begeisterten Mädchen nicht umhin können, zu be¬<lb/> dauern, daß dieser große Dichter ein von der Birch-Pfeiffer (Jane Eyre) bis auf<lb/> die Marlitt doch tüchtig ausgequetschtes Motiv behandelt habe. Es dreht sich<lb/> nämlich auch im „Haus Wartenberg" alles um die Gouvernante (natürlich einen<lb/> wahren Ausbund ihres edeln Geschlechts, ein konzentrirtes Exemplar der Vereinigung<lb/> sämtlicher weiblichen Tugenden, vom Wäschewaschen bis zum Phantasiren auf dem<lb/> Klavier nach eigner Eingebung); um die Gouvernante, sagen wir, in welche sich<lb/> der Bruder ihrer Schülerin (der traditionellen Lustsvielnaive) verliebt, um sie nach<lb/> all den Schwierigkeiten, die einer Mesalliance eines gräflichen Majoratsherrn mit<lb/> einer simpeln bürgerlichen Professorstochter im Wege stehen, als sein ehrenhaft vor<lb/> Gott und Menschen angetrautes Eheweib heimzuführen. Das wird selbst manches<lb/> liebe gebildete deutsche Jungfräulein bedauern. Aber wozu war es auf der „höheren<lb/> Töchterschule," wo Aesthetik mit ganz besonderm Nachdruck vorgetragen wurde,<lb/> wenn es sich nicht schnell des Axioms derselben erinnerte, daß in der Kunst nicht<lb/> der Stoff, sondern die Form die Hauptsache ist und das Urteil begründen soll?</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0446]
Literatur.
musterhaft und von unschätzbarem Werte. Wir wüßten uicht, wie man lehrreicher
in das Wesen der Lyrik, der Ballade, der Fabel eingeführt werden könnte, als durch
die Art, in der Palleske die Fabeln Gellerts, einzelne Oden Klopstocks, Schillers
Taucher, den Erlkönig und den Fischer Goethes zum Zweck eines guten Vortrages
nnalysirt; wir wissen ja, was er unter einem solchen Vortrage verstand. Es ist
eine wirklich produktive Art der Kritik, eine von allem Doktrinären freie Ästhetik
in ihnen. Eine Sammlung solcher Analysen, eine in dieser Weise kommentirtc
Ausgabe von Schillers Gedichten müßte das Verständnis der Poesie mehr fördern
als sämtliche Schriften Düntzers oder seinesgleichen. Schade, daß Palleske tot ist!
Sicherlich hat er neben seiner Schiller-Biographie sich kein schöneres Denkmal setzen
können als mit seiner „Kunst des Vortrags."
Haus Wartenberg. Ein Roman von Oskar von Red Witz. Berlin, Wilhelm Hertz
(Besscrsche Buchhandlung), 1884.
Mit gemischten Gefühlen legt der Kritiker dieses Buch aus der Hand. Er
ist sehr Wohl überzeugt, soweit er den Geschmack des großen deutschen Publikums
kennt, daß dieser neue Roman des nunmehr auch zum Geiste der fortschrittlichen,
freien Wissenschaft bekehrten frommen Sängers der „Amarant!)" viele deutsche
Mädchen und Jungfrauen, auch viele Biedermänner entzücken wird. Er verhehlt sich
durchaus nicht die Tugenden dieses neuen Werkes, und er wird jenen braven Leuten
ihre Freude darau nicht verargen. Er würde sich, sollte er es persönlich mit einem
von ihnen zu thun haben, sehr wohl hüten, ihnen ihr Recht zur Begeisterung zu
bestreiten — denn bei gewissen Dingen fängt in der Kunst die Region des In¬
dividuellen an, das gleichwohl noch immer nicht absolut subjektiv ist, wo nicht mehr
mit allen über den Wert eines Werkes gestritten werden kann. Wie gut hat es
Redwitz verstanden, die schwachen Seiten jenes eben bezeichneten und glücklicher¬
weise für den Verleger so zahlreichen Publikums herauszufühlen und ihnen zu
schmeicheln! Sentimentalität, vage Begeisterung für das Gute, Schöne und Wahre,
für das nunmehr auch so glorreich erstandene deutsche Reich, eine, wenn man näher
zusieht, freilich etwas brüchige Versöhnung von gläubigem Christentum mit den
Ideen der neuen und besonders der Naturwissenschaften, ein schwärmerisches Reflektiren
über den hohen Flug derselben u. dergl. in. — das sind ja die Charakterzüge der
durchschnittlichen Bildung jenes Publikums, und das sind auch die Eigentümlichkeiten
der Redwitzschen Muse. Finden sich da nicht zwei gleichgesinnt^ Seelen? Zwar
wird auch manches der lieben begeisterten Mädchen nicht umhin können, zu be¬
dauern, daß dieser große Dichter ein von der Birch-Pfeiffer (Jane Eyre) bis auf
die Marlitt doch tüchtig ausgequetschtes Motiv behandelt habe. Es dreht sich
nämlich auch im „Haus Wartenberg" alles um die Gouvernante (natürlich einen
wahren Ausbund ihres edeln Geschlechts, ein konzentrirtes Exemplar der Vereinigung
sämtlicher weiblichen Tugenden, vom Wäschewaschen bis zum Phantasiren auf dem
Klavier nach eigner Eingebung); um die Gouvernante, sagen wir, in welche sich
der Bruder ihrer Schülerin (der traditionellen Lustsvielnaive) verliebt, um sie nach
all den Schwierigkeiten, die einer Mesalliance eines gräflichen Majoratsherrn mit
einer simpeln bürgerlichen Professorstochter im Wege stehen, als sein ehrenhaft vor
Gott und Menschen angetrautes Eheweib heimzuführen. Das wird selbst manches
liebe gebildete deutsche Jungfräulein bedauern. Aber wozu war es auf der „höheren
Töchterschule," wo Aesthetik mit ganz besonderm Nachdruck vorgetragen wurde,
wenn es sich nicht schnell des Axioms derselben erinnerte, daß in der Kunst nicht
der Stoff, sondern die Form die Hauptsache ist und das Urteil begründen soll?
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