Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Literatur. festhält und nur die Persönlichkeit leugnet, um die Unendlichkeit festhalten zu können. Durch den größten Teil der Schrift zieht sich eine fortlaufende Auseinander¬ Wir dürfen dem Verfasser das Zeugnis nicht vorenthalten, daß er mit Be¬ Ueber tragische Schuld und Sühne. Ein Beitrag zur Geschichte der Aesthetik des Dramas von Dr. Julius Goebel. Berlin, Carl Dunckers Verlag, 1884. Dieses Büchlein verfolgt dreierlei Zwecke. Einmal will es in die Lücke, Literatur. festhält und nur die Persönlichkeit leugnet, um die Unendlichkeit festhalten zu können. Durch den größten Teil der Schrift zieht sich eine fortlaufende Auseinander¬ Wir dürfen dem Verfasser das Zeugnis nicht vorenthalten, daß er mit Be¬ Ueber tragische Schuld und Sühne. Ein Beitrag zur Geschichte der Aesthetik des Dramas von Dr. Julius Goebel. Berlin, Carl Dunckers Verlag, 1884. Dieses Büchlein verfolgt dreierlei Zwecke. Einmal will es in die Lücke, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0350" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157275"/> <fw type="header" place="top"> Literatur.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1228" prev="#ID_1227"> festhält und nur die Persönlichkeit leugnet, um die Unendlichkeit festhalten zu können.<lb/> Was damit gemeint ist, würden wir mit Beifall begrüßen können, es müßte nur<lb/> mit andern Worten ausgedrückt werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1229"> Durch den größten Teil der Schrift zieht sich eine fortlaufende Auseinander¬<lb/> setzung mit Schopenhauer hindurch, dem der Verfasser in einzelnen Aussprüchen<lb/> beistimme, während er seine Anschauungen im ganzen entschieden verwirft. Ebenso<lb/> wird im einundzwanzigsten Kapitel das „Unbewußte" Hartmanns und die daraus<lb/> folgende Welterklärung als ihren Zweck nicht erfüllend zurückgewiesen, und im drei¬<lb/> undzwanzigsten dem Seelenbegriff Lotzes eingehende Aufmerksamkeit geschenkt, wenn<lb/> auch der Verfasser auf verschwommene Auffassung desselben und auf erzwungene<lb/> Lösung des Problems erkennen muß.</p><lb/> <p xml:id="ID_1230"> Wir dürfen dem Verfasser das Zeugnis nicht vorenthalten, daß er mit Be¬<lb/> dacht verfährt, sowohl bei allen seinen Einwendungen gegen Andersdenkende, wie<lb/> bei seinen eignen Aufstellungen, die er selbst noch nicht als vollkommen fertig hin¬<lb/> stellen will. Wir wünschen, daß ihm unter dem Zeichen: Zurück zu Kant! vor<lb/> allen Dingen noch Verständnis der Kantischen Raum- und Zeitlehre aufgehen möchte,<lb/> wozu namentlich strengeres Scheiden zwischen relativen Räumen und Zeiten einer¬<lb/> seits und dem absoluten Raum und der absoluten Zeit andrerseits verhelfen könnte;<lb/> dann würde manches im einzelnen mit Vorsicht von ihm gegen Kant gesagte erst<lb/> recht in Kraft bleiben, es würde aber durch sein Eintreten in die Gesamtanschauung<lb/> Kants sein philosophisches Forschen und Streben den bis jetzt noch mangelnden<lb/> Abschluß finden.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Ueber tragische Schuld und Sühne. Ein Beitrag zur Geschichte der Aesthetik des<lb/> Dramas von Dr. Julius Goebel. Berlin, Carl Dunckers Verlag, 1884.</head><lb/> <p xml:id="ID_1231" next="#ID_1232"> Dieses Büchlein verfolgt dreierlei Zwecke. Einmal will es in die Lücke,<lb/> welche Lotze in seiner Geschichte der Aesthetik in Deutschland dort gelassen hat, wo<lb/> er das obige Problem behandeln sollte, eintreten; sodann will es dem Schaden,<lb/> welchen die buddhistische Weltanschauung Schopenhauers gerade bei unsern Dichtern<lb/> angerichtet hat, dadurch entgegenwirken, daß es entwickelt und nachweist, wie sich<lb/> Ideal und Begriff der Tragödie bei unsern großen Denkern und Dichtern von<lb/> Lessing und Herder bis auf Schiller einerseits, Schelling bis auf Bischer und<lb/> Kostim andrerseits gestaltet haben; es will dem indischen Ideal das germanische<lb/> entgegenstellen; und endlich will es dem Dramatiker selbst, von dem nur Unkenntnis<lb/> der wahren Dichterpsychologie behaupten kann, daß er „unbewußt," nur so im<lb/> Traume schaffe, ohne sich über die Gesetze seiner eignen Kunst Rechenschaft zu<lb/> geben, eine Uebersicht der wichtigsten Ansichten über tragische Schuld und Sühne<lb/> geben. Ob es wohl alle diese Zwecke in gleicher Weise erreicht? Zunächst muß<lb/> zugestanden werden, daß es eine wirkliche Quellenarbeit ist, der man es fortwährend<lb/> anmerkt, daß der Autor seinen Stoff eindringlich durchdacht, wahrhaft individuell<lb/> aufgefaßt und teilweise glänzend dargestellt hat; es ist eine vornehme und ernste<lb/> Monographie. Diese rückhaltlose Anerkennung seiner Vorzüge wird uns aber auch<lb/> gestatten, einige Bemerkungen sachlicher und formaler Art hinzuzufügen. Es ist<lb/> zunächst sehr fraglich, ob dem Poeten die metaphysische Begründung irgendeines<lb/> ästhetischen Begriffes im mindesten wichtig sein könne. Es geht der Metaphysik<lb/> der Poesie gegenüber ganz so wie dem Leben: wo jene anfängt, hört diese auf.<lb/> Etwas anders ist es, ein Gefühl ästhetischer Art durch Analyse klären, etwas anders,<lb/> es metaphysisch erklären. Nur das erstere nützt dem Künstler, das letztere ist ihm<lb/> ebenso gleichgiltig, wie das jeweilige System, wonach es geschieht. Demnach er-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0350]
Literatur.
festhält und nur die Persönlichkeit leugnet, um die Unendlichkeit festhalten zu können.
Was damit gemeint ist, würden wir mit Beifall begrüßen können, es müßte nur
mit andern Worten ausgedrückt werden.
Durch den größten Teil der Schrift zieht sich eine fortlaufende Auseinander¬
setzung mit Schopenhauer hindurch, dem der Verfasser in einzelnen Aussprüchen
beistimme, während er seine Anschauungen im ganzen entschieden verwirft. Ebenso
wird im einundzwanzigsten Kapitel das „Unbewußte" Hartmanns und die daraus
folgende Welterklärung als ihren Zweck nicht erfüllend zurückgewiesen, und im drei¬
undzwanzigsten dem Seelenbegriff Lotzes eingehende Aufmerksamkeit geschenkt, wenn
auch der Verfasser auf verschwommene Auffassung desselben und auf erzwungene
Lösung des Problems erkennen muß.
Wir dürfen dem Verfasser das Zeugnis nicht vorenthalten, daß er mit Be¬
dacht verfährt, sowohl bei allen seinen Einwendungen gegen Andersdenkende, wie
bei seinen eignen Aufstellungen, die er selbst noch nicht als vollkommen fertig hin¬
stellen will. Wir wünschen, daß ihm unter dem Zeichen: Zurück zu Kant! vor
allen Dingen noch Verständnis der Kantischen Raum- und Zeitlehre aufgehen möchte,
wozu namentlich strengeres Scheiden zwischen relativen Räumen und Zeiten einer¬
seits und dem absoluten Raum und der absoluten Zeit andrerseits verhelfen könnte;
dann würde manches im einzelnen mit Vorsicht von ihm gegen Kant gesagte erst
recht in Kraft bleiben, es würde aber durch sein Eintreten in die Gesamtanschauung
Kants sein philosophisches Forschen und Streben den bis jetzt noch mangelnden
Abschluß finden.
Ueber tragische Schuld und Sühne. Ein Beitrag zur Geschichte der Aesthetik des
Dramas von Dr. Julius Goebel. Berlin, Carl Dunckers Verlag, 1884.
Dieses Büchlein verfolgt dreierlei Zwecke. Einmal will es in die Lücke,
welche Lotze in seiner Geschichte der Aesthetik in Deutschland dort gelassen hat, wo
er das obige Problem behandeln sollte, eintreten; sodann will es dem Schaden,
welchen die buddhistische Weltanschauung Schopenhauers gerade bei unsern Dichtern
angerichtet hat, dadurch entgegenwirken, daß es entwickelt und nachweist, wie sich
Ideal und Begriff der Tragödie bei unsern großen Denkern und Dichtern von
Lessing und Herder bis auf Schiller einerseits, Schelling bis auf Bischer und
Kostim andrerseits gestaltet haben; es will dem indischen Ideal das germanische
entgegenstellen; und endlich will es dem Dramatiker selbst, von dem nur Unkenntnis
der wahren Dichterpsychologie behaupten kann, daß er „unbewußt," nur so im
Traume schaffe, ohne sich über die Gesetze seiner eignen Kunst Rechenschaft zu
geben, eine Uebersicht der wichtigsten Ansichten über tragische Schuld und Sühne
geben. Ob es wohl alle diese Zwecke in gleicher Weise erreicht? Zunächst muß
zugestanden werden, daß es eine wirkliche Quellenarbeit ist, der man es fortwährend
anmerkt, daß der Autor seinen Stoff eindringlich durchdacht, wahrhaft individuell
aufgefaßt und teilweise glänzend dargestellt hat; es ist eine vornehme und ernste
Monographie. Diese rückhaltlose Anerkennung seiner Vorzüge wird uns aber auch
gestatten, einige Bemerkungen sachlicher und formaler Art hinzuzufügen. Es ist
zunächst sehr fraglich, ob dem Poeten die metaphysische Begründung irgendeines
ästhetischen Begriffes im mindesten wichtig sein könne. Es geht der Metaphysik
der Poesie gegenüber ganz so wie dem Leben: wo jene anfängt, hört diese auf.
Etwas anders ist es, ein Gefühl ästhetischer Art durch Analyse klären, etwas anders,
es metaphysisch erklären. Nur das erstere nützt dem Künstler, das letztere ist ihm
ebenso gleichgiltig, wie das jeweilige System, wonach es geschieht. Demnach er-
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