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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Verstaatlichung der Versicherungsanstalten.

is der Reichskanzler in seiner Eigenschaft als preußischer Handels¬
minister am 19. März vorigen Jahres durch Reskript auf die
Mißstände hinwies, die sich aus dem gegenwärtigen Betriebe des
Fcuerversichernngsgeschäftes für die wirtschaftlichen Verhältnisse
des Landes ergeben, war sofort die Frage aufgeworfen und zur
Erörterung gestellt: Wäre es nicht geraten, das Versicherungswesen dem
Staate zu übertragen? Die Freihändler beantworteten diese Frage natürlich mit
einem emphatischen Nein, andre waren in Zweifel, wieder andre aber glaubten die
Frage entschieden bejahen zu müssen. Zu den letzteren gehört der Verfasser einer
Schrift: Verstaatlichung des Versicherungswesens? Eine brennende
Zeitfrage bejahend beantwortet von O. Plouer, die in diesen Tagen erschienen
ist, und die wir im nächstfolgenden in ihren Hauptgedanken wiedergeben.

Der Nachweis, daß die Privatversicherung in Dentschland dem Vvlkswvhle
förderlicher sei als die Staatsversicherung, läßt sich nicht erbringen, wohl aber
das Gegenteil. Der Urzweck der Versicherung ist die Abwendung möglichen
Verlustes von einzelnen durch Verteilung auf viele, also wechselseitige Unterstützung.
Dieser Zweck wird aber bei jeder Privatversicherung sogleich durch einen andern
Beweggrund, die Gewinnsucht, verdunkelt: alle Versicherungen gegen Prämie
drücken den ursprünglichen humanen Zweck zum Handelsgeschäfte herab. "Ab¬
gesehen von der ethischen und wohl auch rechtlichen Verwerflichkeit des Bestrebens,
eine Art Notstand zu gewinnsüchtigen Zwecken auszubeuten, werden in dem
Augenblicke, wo die Versicherung zum Geschäfte geworden ist, naturgemäß auch
die Interessen von Versicherungsgeber und Versicherten feindlich; ... während
der letztere auf Schadenersatz hofft, ist des ersteren höchstes Interesse, keinen
Schaden ersetzen zu müssen, und ans dieses Ziel geht der Versicherungsgeber
solange als irgend möglich aus." Anders beim Staate. Hier wird kein
Geschäft beabsichtigt, hier decken sich die beiderseitigen Interessen, der Schaden¬
ersatz des Versicherungsnehmers ist auch das Ziel des Versicherungsgebers; denn
Staat und Volk sind ja nichts anders als organisirtes Volk dort und natür¬
liches hier. Ein Minus der Versicherungskasse ist hier ein Plus der Volkswohlfahrt,
indem die einzelnen Privatwirtschaften durch entsprechenden Schadenersatz erwerbs¬
fähig erhalten werden. Die privaten Versicherungsanstalten, souverän über alle
Versicherungsanträge entscheidend, sind äußerst wählerisch, schließen alle "schlechten
Risikos" aus und dienen, je solider sie sind, nur den Wohlhabenden. Sie sind


Die Verstaatlichung der Versicherungsanstalten.

is der Reichskanzler in seiner Eigenschaft als preußischer Handels¬
minister am 19. März vorigen Jahres durch Reskript auf die
Mißstände hinwies, die sich aus dem gegenwärtigen Betriebe des
Fcuerversichernngsgeschäftes für die wirtschaftlichen Verhältnisse
des Landes ergeben, war sofort die Frage aufgeworfen und zur
Erörterung gestellt: Wäre es nicht geraten, das Versicherungswesen dem
Staate zu übertragen? Die Freihändler beantworteten diese Frage natürlich mit
einem emphatischen Nein, andre waren in Zweifel, wieder andre aber glaubten die
Frage entschieden bejahen zu müssen. Zu den letzteren gehört der Verfasser einer
Schrift: Verstaatlichung des Versicherungswesens? Eine brennende
Zeitfrage bejahend beantwortet von O. Plouer, die in diesen Tagen erschienen
ist, und die wir im nächstfolgenden in ihren Hauptgedanken wiedergeben.

Der Nachweis, daß die Privatversicherung in Dentschland dem Vvlkswvhle
förderlicher sei als die Staatsversicherung, läßt sich nicht erbringen, wohl aber
das Gegenteil. Der Urzweck der Versicherung ist die Abwendung möglichen
Verlustes von einzelnen durch Verteilung auf viele, also wechselseitige Unterstützung.
Dieser Zweck wird aber bei jeder Privatversicherung sogleich durch einen andern
Beweggrund, die Gewinnsucht, verdunkelt: alle Versicherungen gegen Prämie
drücken den ursprünglichen humanen Zweck zum Handelsgeschäfte herab. „Ab¬
gesehen von der ethischen und wohl auch rechtlichen Verwerflichkeit des Bestrebens,
eine Art Notstand zu gewinnsüchtigen Zwecken auszubeuten, werden in dem
Augenblicke, wo die Versicherung zum Geschäfte geworden ist, naturgemäß auch
die Interessen von Versicherungsgeber und Versicherten feindlich; ... während
der letztere auf Schadenersatz hofft, ist des ersteren höchstes Interesse, keinen
Schaden ersetzen zu müssen, und ans dieses Ziel geht der Versicherungsgeber
solange als irgend möglich aus." Anders beim Staate. Hier wird kein
Geschäft beabsichtigt, hier decken sich die beiderseitigen Interessen, der Schaden¬
ersatz des Versicherungsnehmers ist auch das Ziel des Versicherungsgebers; denn
Staat und Volk sind ja nichts anders als organisirtes Volk dort und natür¬
liches hier. Ein Minus der Versicherungskasse ist hier ein Plus der Volkswohlfahrt,
indem die einzelnen Privatwirtschaften durch entsprechenden Schadenersatz erwerbs¬
fähig erhalten werden. Die privaten Versicherungsanstalten, souverän über alle
Versicherungsanträge entscheidend, sind äußerst wählerisch, schließen alle „schlechten
Risikos" aus und dienen, je solider sie sind, nur den Wohlhabenden. Sie sind


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[0310] Die Verstaatlichung der Versicherungsanstalten. is der Reichskanzler in seiner Eigenschaft als preußischer Handels¬ minister am 19. März vorigen Jahres durch Reskript auf die Mißstände hinwies, die sich aus dem gegenwärtigen Betriebe des Fcuerversichernngsgeschäftes für die wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes ergeben, war sofort die Frage aufgeworfen und zur Erörterung gestellt: Wäre es nicht geraten, das Versicherungswesen dem Staate zu übertragen? Die Freihändler beantworteten diese Frage natürlich mit einem emphatischen Nein, andre waren in Zweifel, wieder andre aber glaubten die Frage entschieden bejahen zu müssen. Zu den letzteren gehört der Verfasser einer Schrift: Verstaatlichung des Versicherungswesens? Eine brennende Zeitfrage bejahend beantwortet von O. Plouer, die in diesen Tagen erschienen ist, und die wir im nächstfolgenden in ihren Hauptgedanken wiedergeben. Der Nachweis, daß die Privatversicherung in Dentschland dem Vvlkswvhle förderlicher sei als die Staatsversicherung, läßt sich nicht erbringen, wohl aber das Gegenteil. Der Urzweck der Versicherung ist die Abwendung möglichen Verlustes von einzelnen durch Verteilung auf viele, also wechselseitige Unterstützung. Dieser Zweck wird aber bei jeder Privatversicherung sogleich durch einen andern Beweggrund, die Gewinnsucht, verdunkelt: alle Versicherungen gegen Prämie drücken den ursprünglichen humanen Zweck zum Handelsgeschäfte herab. „Ab¬ gesehen von der ethischen und wohl auch rechtlichen Verwerflichkeit des Bestrebens, eine Art Notstand zu gewinnsüchtigen Zwecken auszubeuten, werden in dem Augenblicke, wo die Versicherung zum Geschäfte geworden ist, naturgemäß auch die Interessen von Versicherungsgeber und Versicherten feindlich; ... während der letztere auf Schadenersatz hofft, ist des ersteren höchstes Interesse, keinen Schaden ersetzen zu müssen, und ans dieses Ziel geht der Versicherungsgeber solange als irgend möglich aus." Anders beim Staate. Hier wird kein Geschäft beabsichtigt, hier decken sich die beiderseitigen Interessen, der Schaden¬ ersatz des Versicherungsnehmers ist auch das Ziel des Versicherungsgebers; denn Staat und Volk sind ja nichts anders als organisirtes Volk dort und natür¬ liches hier. Ein Minus der Versicherungskasse ist hier ein Plus der Volkswohlfahrt, indem die einzelnen Privatwirtschaften durch entsprechenden Schadenersatz erwerbs¬ fähig erhalten werden. Die privaten Versicherungsanstalten, souverän über alle Versicherungsanträge entscheidend, sind äußerst wählerisch, schließen alle „schlechten Risikos" aus und dienen, je solider sie sind, nur den Wohlhabenden. Sie sind

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/310>, abgerufen am 27.12.2024.