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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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anzusehen, so würde er sich sehr schnell davon überzeugen, wie sehr er sich geirrt
hat, wenn er geglaubt hat, in mir einen "Feind" sehen zu müssen. Es ist mir
bei allen meinen Büchercmzeigcn immer nur um die Sache, niemals um die Person
zu thun.


G. W.


Literatur.
Der Wahrspruch. Ein Beweis des Glaubens und ein Beitrag zur "Philosophie des
Christentums." Hamburg, H. O. Persiehl, 1884.

Der anonyme Verfasser bespricht und beurteilt auf wenig über hundert Seiten
alles mögliche: die Lehren Kants, besonders die von Raum und Zeit -- er erkennt
die Idealität von Raum und Zeit an, bestreitet aber die empirische Realität, läßt
nur "empirische Existenz" gelten, behauptet vielmehr die absolute Realität und sogar
die "Identität" von Raum und Zeit --; Hartmanns Unbewußtes, das "den ge¬
sunden Menschenverstand gänzlich aus dem Auge läßt" und doch "als positive und
effektive Leistung in der Geschichte der Philosophie einen hoher" Rang als selbst
Kant einnimmt"; die von Aristoteles, dem "akademischen Waschmagister," gegebene
Erklärung der Tragödie; Gestalten aus Shakespearescheu und Schillerschen Dramen;
Darwinismus, Spiritismus, Vegetaricmismus, Judenfrage, Fortschrittspartei, Sozial¬
demokratie, Protestantenverein, Zivilstandsgesetz, Zünfte und Gilden, Mission der
germanischen Nasse, Quadratur des Kreises, die "gedankenlose Schwärmerei" für
Ausgrabungen auf hellenischem Boden und die "backsteiuerneu Lügen gothischen
Kirchenbaues für protestantische Gemeinden." Sein Hauptaugenmerk ist dabei auf
das Christentum gerichtet als Salz der Welt, wie wir ihm gern bezeugen, und
nebenbei betont er stark die Kunst und ästhetische Auffassungen nach allen Richtungen
hin. Mit gleicher Antipathie wendet er sich vom Protestantenverein wie von der
orthodoxen oder Pietistischen Partei ab. Er lehrt einen ursprünglichen "Ätherleib"
der Erde, ein "Protoplasma" des Menschen (welches "das Wort" ist), "Audrogynie"
des ersten Menschen, Veränderung der Dinge durch den Sündenfall, infolge dessen
die Welt zeitlich und räumlich geworden ist; er trägt seine besondre Psychologie,
eine Lehre von Fühlen, Denken, Wollen vor, die ihn zur Aufstellung eigentüm¬
licher Begriffsskalen führt, eine besondre Lehre von den fünf Sinnen, eine eigen¬
tümliche Zahlenmystik u. s. w.

Wer das alles auf seinen wirklichen Wert beurteilen wollte, brauchte dazu
mehr, viel mehr als hundert Seiten. Unser Anonymus stellt sich als ein unter¬
richteter und spekulativer Kopf, auch als ein nicht ungeübter Schriftsteller dar, aber
was bezweckt er eigentlich mit dieser hastigen und abrupten Art der Darstellung?
was meint er damit erreichen zu können? Worin soll eigentlich das liegen, was
er "Beweis des Glaubens" nennt? und worin soll sein "Wahrspruch" gefunden
werden? Manches ist in kühnem Wagnis hingestellt, und wird schwerlich so un¬
bedingte Billigung finden, weder bei Christen noch bei Unchristen. Andrerseits sind
sicher viele Körner der Wahrheit in diesen Andentungen zu finden, aber bei der
Mannichfaltigkeit der berührten Probleme und bei der Ruhelosigkeit, mit welcher
der Leser von einem zum andern geführt wird, ist kein bleibender Eindruck zu


Literatur.

anzusehen, so würde er sich sehr schnell davon überzeugen, wie sehr er sich geirrt
hat, wenn er geglaubt hat, in mir einen „Feind" sehen zu müssen. Es ist mir
bei allen meinen Büchercmzeigcn immer nur um die Sache, niemals um die Person
zu thun.


G. W.


Literatur.
Der Wahrspruch. Ein Beweis des Glaubens und ein Beitrag zur „Philosophie des
Christentums." Hamburg, H. O. Persiehl, 1884.

Der anonyme Verfasser bespricht und beurteilt auf wenig über hundert Seiten
alles mögliche: die Lehren Kants, besonders die von Raum und Zeit — er erkennt
die Idealität von Raum und Zeit an, bestreitet aber die empirische Realität, läßt
nur „empirische Existenz" gelten, behauptet vielmehr die absolute Realität und sogar
die „Identität" von Raum und Zeit —; Hartmanns Unbewußtes, das „den ge¬
sunden Menschenverstand gänzlich aus dem Auge läßt" und doch „als positive und
effektive Leistung in der Geschichte der Philosophie einen hoher» Rang als selbst
Kant einnimmt"; die von Aristoteles, dem „akademischen Waschmagister," gegebene
Erklärung der Tragödie; Gestalten aus Shakespearescheu und Schillerschen Dramen;
Darwinismus, Spiritismus, Vegetaricmismus, Judenfrage, Fortschrittspartei, Sozial¬
demokratie, Protestantenverein, Zivilstandsgesetz, Zünfte und Gilden, Mission der
germanischen Nasse, Quadratur des Kreises, die „gedankenlose Schwärmerei" für
Ausgrabungen auf hellenischem Boden und die „backsteiuerneu Lügen gothischen
Kirchenbaues für protestantische Gemeinden." Sein Hauptaugenmerk ist dabei auf
das Christentum gerichtet als Salz der Welt, wie wir ihm gern bezeugen, und
nebenbei betont er stark die Kunst und ästhetische Auffassungen nach allen Richtungen
hin. Mit gleicher Antipathie wendet er sich vom Protestantenverein wie von der
orthodoxen oder Pietistischen Partei ab. Er lehrt einen ursprünglichen „Ätherleib"
der Erde, ein „Protoplasma" des Menschen (welches „das Wort" ist), „Audrogynie"
des ersten Menschen, Veränderung der Dinge durch den Sündenfall, infolge dessen
die Welt zeitlich und räumlich geworden ist; er trägt seine besondre Psychologie,
eine Lehre von Fühlen, Denken, Wollen vor, die ihn zur Aufstellung eigentüm¬
licher Begriffsskalen führt, eine besondre Lehre von den fünf Sinnen, eine eigen¬
tümliche Zahlenmystik u. s. w.

Wer das alles auf seinen wirklichen Wert beurteilen wollte, brauchte dazu
mehr, viel mehr als hundert Seiten. Unser Anonymus stellt sich als ein unter¬
richteter und spekulativer Kopf, auch als ein nicht ungeübter Schriftsteller dar, aber
was bezweckt er eigentlich mit dieser hastigen und abrupten Art der Darstellung?
was meint er damit erreichen zu können? Worin soll eigentlich das liegen, was
er „Beweis des Glaubens" nennt? und worin soll sein „Wahrspruch" gefunden
werden? Manches ist in kühnem Wagnis hingestellt, und wird schwerlich so un¬
bedingte Billigung finden, weder bei Christen noch bei Unchristen. Andrerseits sind
sicher viele Körner der Wahrheit in diesen Andentungen zu finden, aber bei der
Mannichfaltigkeit der berührten Probleme und bei der Ruhelosigkeit, mit welcher
der Leser von einem zum andern geführt wird, ist kein bleibender Eindruck zu


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[0111] Literatur. anzusehen, so würde er sich sehr schnell davon überzeugen, wie sehr er sich geirrt hat, wenn er geglaubt hat, in mir einen „Feind" sehen zu müssen. Es ist mir bei allen meinen Büchercmzeigcn immer nur um die Sache, niemals um die Person zu thun. G. W. Literatur. Der Wahrspruch. Ein Beweis des Glaubens und ein Beitrag zur „Philosophie des Christentums." Hamburg, H. O. Persiehl, 1884. Der anonyme Verfasser bespricht und beurteilt auf wenig über hundert Seiten alles mögliche: die Lehren Kants, besonders die von Raum und Zeit — er erkennt die Idealität von Raum und Zeit an, bestreitet aber die empirische Realität, läßt nur „empirische Existenz" gelten, behauptet vielmehr die absolute Realität und sogar die „Identität" von Raum und Zeit —; Hartmanns Unbewußtes, das „den ge¬ sunden Menschenverstand gänzlich aus dem Auge läßt" und doch „als positive und effektive Leistung in der Geschichte der Philosophie einen hoher» Rang als selbst Kant einnimmt"; die von Aristoteles, dem „akademischen Waschmagister," gegebene Erklärung der Tragödie; Gestalten aus Shakespearescheu und Schillerschen Dramen; Darwinismus, Spiritismus, Vegetaricmismus, Judenfrage, Fortschrittspartei, Sozial¬ demokratie, Protestantenverein, Zivilstandsgesetz, Zünfte und Gilden, Mission der germanischen Nasse, Quadratur des Kreises, die „gedankenlose Schwärmerei" für Ausgrabungen auf hellenischem Boden und die „backsteiuerneu Lügen gothischen Kirchenbaues für protestantische Gemeinden." Sein Hauptaugenmerk ist dabei auf das Christentum gerichtet als Salz der Welt, wie wir ihm gern bezeugen, und nebenbei betont er stark die Kunst und ästhetische Auffassungen nach allen Richtungen hin. Mit gleicher Antipathie wendet er sich vom Protestantenverein wie von der orthodoxen oder Pietistischen Partei ab. Er lehrt einen ursprünglichen „Ätherleib" der Erde, ein „Protoplasma" des Menschen (welches „das Wort" ist), „Audrogynie" des ersten Menschen, Veränderung der Dinge durch den Sündenfall, infolge dessen die Welt zeitlich und räumlich geworden ist; er trägt seine besondre Psychologie, eine Lehre von Fühlen, Denken, Wollen vor, die ihn zur Aufstellung eigentüm¬ licher Begriffsskalen führt, eine besondre Lehre von den fünf Sinnen, eine eigen¬ tümliche Zahlenmystik u. s. w. Wer das alles auf seinen wirklichen Wert beurteilen wollte, brauchte dazu mehr, viel mehr als hundert Seiten. Unser Anonymus stellt sich als ein unter¬ richteter und spekulativer Kopf, auch als ein nicht ungeübter Schriftsteller dar, aber was bezweckt er eigentlich mit dieser hastigen und abrupten Art der Darstellung? was meint er damit erreichen zu können? Worin soll eigentlich das liegen, was er „Beweis des Glaubens" nennt? und worin soll sein „Wahrspruch" gefunden werden? Manches ist in kühnem Wagnis hingestellt, und wird schwerlich so un¬ bedingte Billigung finden, weder bei Christen noch bei Unchristen. Andrerseits sind sicher viele Körner der Wahrheit in diesen Andentungen zu finden, aber bei der Mannichfaltigkeit der berührten Probleme und bei der Ruhelosigkeit, mit welcher der Leser von einem zum andern geführt wird, ist kein bleibender Eindruck zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/111>, abgerufen am 27.12.2024.